Die Theologie der „Krisis” und des „Wortes”

Ihre allgemeinen Voraussetzungen und Prinzipien

Zeitschrift für Theologie und Kirche

Neue Folge 7. Jahrgang, herausgegeben von Horst Stephan
Tübingen (J.C.B. Mohr) 1926, 1. Heft, 1-36

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In der „radikalkritischen” theologischen Bewegung, wie sie von K. Barth, Gogarten, Brunner u.a. Theologen in verschiedener Weise, aber von einer gemeinsamen Gesamtanschauung aus vertreten wird, spitzt sich die tiefgreifende religiöse Krisis der Gegenwart in symptomatischer Weise zu und wird ihrerseits durch die theologischen Formulierungen jener Richtung weithin beeinflußt. So gehört die Frage nach ihren allgemeinen Voraussetzungen und Grundbestimmungen wie nach ihrem Verhältnis zur Botschaft des Evangeliums zu den bedeutsamsten Problemen der gegenwärtigen Theologie. Der ersten dieser Fragen möchte der nachfolgende analytische Versuch dienen.

Die „Theologie der radikalen Krisis” tritt mit einer doppelten Front in die theologische Diskussion ein: ihrer scharf polemischen Kritik, die ihrer eigentlichen Tendenz nach alle geistigen Lebensgebiete trifft, entspricht eine positieve Verkündigung, in der sich die tiefe geistige Triebkraft dieser Bewegung enthüllt. Beide Teile stehen in bestimmter Wechselwirkung; daher ist das Pathos der positiven Verkündigung den kritischen Anläufen überall abzuspüren, ohne daß jedoch etwa die Kritik nichts anderes als die negative Auswirkung der neuen Position wäre. Aus diesem genauer zu untersuchenden Verhältnis beider Momente zueinander erklärt sich zuvorderst der Umstand, daß das kritische Grundproblem in vielfältiger Gestalt auf |2| den verschiedensten Feldern auftritt. Nicht nur an entscheidenden Punkten in den theologischen Disziplinen, wo es eine Wendung für die Dogmatik, Ethik und Religionsphilosophie, ferner für die neutestamentliche Forschung und zentrale Fragen der Kirchengeschichte bedeutet und in den praktischen Disziplinen ähnliche Wirkungen hervorzurufen beginnt, sondern auch in der Philosophie als der Grundwissenschaft tritt es auf. In die philosophische Ethik, die Weltanschauungslehre, die Geschichts- und Kulturphilosophie, ja auch in die Logik und Erkenntnistheorie greift es ein. So werden wir es in seinen verschiedenen Formen aufzusuchen und aus ihnen seinen Sinn und seine Tragweite abzulesen haben 1).


1. Zunächst aber gibt uns die Tatsache, daß diese theologische Bewegung in derart umfassender Weise auf die heterogensten Gebiete sich erstreckt, die Frage auf, ob es sich wirklich, wie vielfach als selbstverständlich vorausgesetzt wird, um eine theologische Sonderrichtung im Rahmen und auf dem Boden der allgemeinen theologischen Forschung handle oder ob sich dahinter nicht etwas im Grunde Andersartiges verberge. Die Theologie als Wissenschaft hat es überall mit den Erscheinungsweisen der Religionen und der christlichen Religion vor allem zu tun. Sie steht somit an jedem Punkte auf dem Boden möglicher geistiger Erfahrung und lehnt sich an geistige, seelische Gegebenheiten an. Damit steht nicht etwa in unvereinbarem Widerspruch, daß sie von diesen Grundlagen ausgehend in das Reich des Unbedingten, Absoluten, seiner Normen und Werte sich erhebt. Vielmehr wird sie nach Gegenständen, Aufgaben und Methoden letztlich überall durch dieses beides, ihre Grundlagen und ihre Zielrichtung bestimmt. Das Verhältnis dieser beiden Momente zueinander wird sehr verschiedenartig sein können. Stets aber werden sie beide vorhanden und wirksam sein müssen, wenn Gegenstand und Behandlung als „theologische” sollen gelten können. Auch dann, wenn die „Grundlagen” im Grenzfall auf das eigene religiöse „Erleben” sich zusammenziehen, sind die Bedingungen für den |3| „theologischen” Charakter ihrer geistigen Verarbeitung erfüllt 2). Um dieser beiden Momente willen nun gliedert sich die Theologie, ihrer Eigenart und Einzigartigkeit unbeschadet, dem Gesamtorganismus der Geisteswissenschaften ein, in denen sämtlich, wenn auch jeweils in wiederum eigenartigen Qualitäten, sowohl die Grundlagen geistiger und seelischer Gegebenheiten als auch ideelle, normative Zielrichtungen vorhanden sind. Als aus diesen Bedingungen theologisch-wissenschaftlicher Erkenntnis herausfallend sind nur zu denken: rein historische und philosophische Arbeit, die alle religiöse Beziehung vermissen läßt, auf der einen Seite, religiöses Fantasiespiel und religiöse Begriffskonstruktion auf der anderen, bei denen die unerläßliche Bezogenheit auf geistige „Realität” im wissenschaftlichen Sinne fehlt, so daß sie — vom Standpunkt der Wissenschaft aus — ihren Ort nur finden können zwischen „Willkür” und „Wahn”. Um dieser doppelten Bezogenheit willen gliedern und ordnen sich nun die tausendfältigen Fragestellungen, Aufgaben, Behandlungsweisen und Ergebnisse zu einem „objektiven” „Sachzusammenhang”. Objektiv und sachlich muß dieser Zusammenhang genannt werden, nicht etwa weil es sich um „Dinge” und „Sachen” handelte, sondern einmal weil das erkennende Subjekt die Fragen und Aufgaben dieses geistigen Arbeitsgebietes „vorfindet” als „Objekte” seines Erkennens, zum anderen, weil diese nun, abgesehen davon, daß sie einzeln dem erkennenden Subjekt „gegeben” sind, untereinander in einem vom Willen des Subjektes unabhängigen, weil ganz allein in ihrer geistigen Qualität, ihrem „Sinn” und ihrer „Bedeutung” liegenden, insofern also abermals „objektiven”, „sachlichen” Zusammenhang stehen. Diese Beziehungen gehören durchaus zu ihrem geistigen Wesen, ihre Aufhellung und möglichst treue, von subjektiven Trübungen und willkürlichen Eintragungen freie Abzeichnung ist deshalb eine der wesentlichen Aufgaben für die Wissenschaft. So ist die wissenschaftlich-systematische Theologie stets durch die erkennenden Subjekte wie die Erkenntnisgegenstände zugleich bestimmt und, als fortschreitende, im Annäherungsprozeß an den zu erkennenden „objektiven Sachzusammenhang” begriffen. Insofern sie lediglich |4| solchem, auf reine Objektserkenntnis gerichteten Erkenntnisdrang gehorcht, ist sie „Wahrheitsforschung”.

Innerhalb dieser theologischen wissenschaftlichen Arbeit würde eine neue Richtung in der Regel von einem neuen Objekt her oder aus einer neuen Erkenntnis am bekannten Objekt entstehen und damit nach der doppelten Ordnung der „Sache” und des „Sinnes” sich dem Gesamtzusammenhang einfügen, ihn nach einer Richtung hin erweiternd oder berichtigend. Nun ist freilich auch der Fall möglich, daß eine neue Bewegung sich entzündet, nicht an einem Teilgegenstand und aus einer Sonderanschauung heraus, sondern aus der Kritik der Grundvoraussetzungen solcher geistiger Arbeit überhaupt. Es können die hier maßgebende „wissenschaftliche Einstellung”, die „Mentalität” des geistigen Arbeiters, Sinn, Wert und Ziel solcher Betätigung und ihrer Methoden schlechthin in Frage gestellt und verworfen werden. Solche Kritik liefe dann, wenn sie sich selbst versteht und konsequent durchgeführt, nicht etwa nur fragend erhoben und alsbald von anderen Motiven her beschwichtigt oder verdrängt wird, auf die Ablehnung dieser Wissenschaft überhaupt hinaus. Es bleibt dann die doppelte Möglichkeit, daß entweder die Grundlegung einer neuen „Wissenschaft” mit ihr entsprchender „wissenschaftlicher” Geistesverfassung, ihr gemäßen Gegenständen, Methoden und Zielen gegeben — oder wissenschaftliche Arbeit überhaupt und im Prinzip verworfen wird. Eine in diesem Sinne „radikale” Kritik würde mit den Grundvoraussetzungen zugleich die Grundlagen und die Zielrichtung solcher Arbeit in Frage stellen.

Die erste einer derartig radikalen Kritik gegenüber zu erhebende Frage wird die nach ihren eigenen Voraussetzungen sein, von denen aus dann erst das entscheidende Licht auf Sinn und Wert ihrer kritischen Aufstellungen fallen kann.

Eben diese Frage ist es, mit der wir der theologischen Bewegung Barths und seiner Freunde begegnen. Denn der oben bezeichnete Fall radikaler Kritik ist hier gegeben. „In demselben Augenblick, in dem die Theologie ihren Gegenstand, die Aussage des Evangeliums, wissenschaftlichen Prinzipien unterstellt, hört sie auf, Theologie zu sein” 3). Es ist ein aussichtsloses Bemühen, Recht oder Unrecht ihrer |5| Kritik auf dem abgegrenzten Feld eines historischen oder systematischen Problems gegeneinander abwägen zu wollen. Am allerwenigsten würde man dabei auf eine Verständigung mit ihnen rechnen dürfen, denn sie würden sich in den entscheidenden Tiefen ihrer Kritik gar nicht verstanden fühlen und aus dieser vergeblichen Diskussion nur die Folgerung ziehen, daß sie ihre kritische Botschaft noch auf ganz andere Weise und mit ganz anderen Mitteln zu Gehör bringen müssen. Während sie also die Theologie auf ihren einzelnen Arbeitsgebieten aufsuchen und hier in verschiedenster Weise ihrer radikalen Kritik das Wort reden müssen, sind wir genötigt, hinter diese Kampffronten zu den Quellpunkten und inneren Linien ihrer kritischen und positiven Aufstellungen vorzudringen. Wenn auch ein solches Verfahren den Absichten ihrer Kritik stracks zuwiderläuft 4), so hoffen wir doch, auf diesem Wege „das Wort” in ihrer Botschaft um so deutlicher zu vernehmen.

Die wesentliche Voraussetzung und Triebkraft nun ihrer kritischen Position ist nicht theologisch-wissenschaftlicher, sondern religiöser Art; ihr Kern ist eine religiöse Botschaft. Diese erste entscheidende Erkenntnis steht freilich in ihrem ersten Teil in Gegensatz zu ihrer Selbstaussage 5) und dem formalen Charakter ihrer Kritik und eigenen Position, die durchaus in theologisch-wissenschaftlichem Gewande auftreten und als wissenschaftliche Theologie im strengsten Sinne gewertet werden wollen 6). Diese Form wurde aber nahegelegt, wenn nicht aufgedrungen durch die kritische Situation. Die Theologie einer Zeit ist ohne Zweifel nicht nur die jeweilige Gestalt der lebendigen wissenschaftlichen Erkenntnis, sondern zugleich einer der vornehmsten und charakteristischen Exponenten der Frömmigkeit |6| der kirchlich und literarisch führenden Kreise. Soll nun Wert und Geltung dieser Frömmigkeit in Frage gestellt werden, so wird die Auseinandersetzung in erster Linie auf dem Felde theologisch-polemischer Diskussion vor sich gehen müssen. Gleichwohl muß es die Beurteilung verwirren, wenn der rein religiöse Ursprung und die rein religiöse Absicht dieser radikalen Kritik verkannt werden. Nun ist gewiß der Fall nicht nur denkbar, sondern gar nicht selten, daß sich ein religiöses Motiv mit einer speziellen wissenschaftlich-theologischen Einsicht verbindet und beide vereint in die theologische Entwicklung bestimmend eingreifen, ohne daß es zu einem radikalen Abbruch kommt. Bei den wirklich bedeutenden Theologen aller Zeiten ist eine derartige Verbindung religiöser und spezifisch theologisch-wissenschaftlicher Momente festzustellen. Wesentlich anders aber liegen die Dinge da, wo das religiöse Motiv nicht nur dieser oder jener theologischen Auffassung und Richtung widerstreitet, sondern die Wissenschaft als solche in Frage stellt. Dann wird es innerhalb ihrer keine Anknüpfungspunkte für die eigene Einwirkung und Eingliederung mehr finden noch auch suchen, es wird sich ihrer nur in kritisch-polemischer Absicht bedienen, um seine radikale Kritik zur Geltung zu bringen. Da aber diese radikale Kritik stets in religiöser Absicht geschieht, so wird sie überall da falsch verstanden, wo sie als eine wissenschaftliche Erörterung aufgenommen und erwidert wird. Gewiß sind ihre Sätze auf ihre wissenschaftliche Gründlichkeit, Präzision und Sachlichkeit zunächst zu prüfen, wobei sich vielfach eine erhebliche Diskrepanz geltend machen wird zwischen den wissenschaftlichen Gesichtspunkten, Fragestellungen und Belangen und einer anderen, eigenartigen Tendenz eben religiöser Natur, die die wissenschaftliche Methode und Polemik für ihre Zwecke ins Treffen führt. Die Hauptaufgabe bleibt aber die Würdigung jenes eigentlichen, religiösen Motivs und seiner nach den verschiedensten Seiten hin wirksamen Konsequenzen, die erst ein Gesamtbild jener radikalen Kritik entstehen läßt und eine Gesamtbeurteilung ermöglicht.


2. Treten wir nach diesen, aus der Sache selbst gewonnenen, grundsätzlichen Ueberlegungen an die Theologie Barths und seiner Freunde heran, so gilt es zunächst, den religiösen Kern ihrer |7| radikalen Kritik herauszuschälen. Aus ihren Schriften ließen sich da nun Belege in beliebiger Zahl und Ausführlichkeit dafür anführen, daß ihre Verkündigung auf allen Lebensgebieten und in allen Lebensfragen auf dies eine abzielt: auf die Herausarbeitung des absoluten Gegensatzes zwischen Gott und Welt, Gott und Mensch, Ewigkeit und Zeit, Jenseits und Diesseits. Diesen absoluten Gegensatz als das alleingültige Seins- und Wertverhältnis für die Beurteilung des geistigen, seelischen, sittlichen, religiösen, kulturellen und geschichtlichen Lebens anzuerkennen, vielmehr ihn aufzurichten und ihn zum gerichtsdrohenden, „radikal-kritischen Gesichtspunkt” für alle Lebensgebiete zu machen, erscheint als die einzig wahrhaftige Haltung des frommen Menschen, ist allein „Glaube”. Die einzig mögliche Verbindung zwischen Gott und dem Geistesleben des Menschen ist die „der absoluten Gegensätzlichkeit”. Gott wird als „Gott” nur erkannt, insofern er in seinem Gegensatz zum Menschen und seiner Welt als „der ganz und gar andere” 7) erkannt wird, insofern der „Sinn für das Spezifische an Gott” nicht verloren gegangen ist: „Der Gedanke an die Gletscherspalte, an die Polarregion, an die Verwüstungszone, die zu überschreiten ist” 8). Er ist deshalb der ganz und gar Unnahbare, der Verborgene, der „Unanschauliche” und schlechterdings niemals „Gegebene”. Ist Gott in dieser seiner wahren Göttlichkeit, d.h. seiner absoluten Gegensätzlichkeit zu allem Menschlichen erkannt, bzw. „geglaubt”, so bedeutet der Gottesglaube die „absolute Krisis”, das völlige „Infragegestelltsein” des Menschen und seiner Welt. Die Frage nach „Gott”, im vollsten Ernst gestellt, erweist sich „als die unserer Existenz gegenüber absolut fragende Frage, das heißt: die uns den Boden unter den Füßen fortzieht — und uns damit aller geschaffenen Werke, aller Werte, aller Güter, alles Besitzes, stofflichen, geistigen, seelischen Besitzes los und ledig sein läßt.” „Diese Kritik, dieses Nein stammt aus einem absoluten Jenseits der Dinge und stellt sie und ihren Wert ganz und gar in Frage” 9). „Jenseits, trans, darum handelt es |8| sich, davon leben wir” 10). „Dies, daß Zeit und Ewigkeit den Entscheidungskampf miteinander kämpfen, in dem es . . . um nicht weniger als um Zeit und Ewigkeit geht, und dessen Ausgang, wie immer er auch ausfällt, Unser Ende, Unsere Aufhebung bedeutet, diese Tatsache sind wir; diese drohende Vernichtung und Aufhebung unserer selbst ist unsere Substanz, ist unser Wesen” 11). Es kann nicht zweifelhaft sein, daß in allen solchen Formulierungen, zu denen sich die kritischen Gedankengänge dieser Theologen von allen nur denkbaren Problemstellungen aus in immer neuer Pointierung zuspitzen, ein tiefes religiöses Motiv zum Ausdruck kommt. Das Bewußtsein der unüberbrückbaren Kluft zwischen Gott und Mensch, das unaufhebbaren Artunterschieds zwischen Göttlichem und allem, was zum Menschen, seiner Geschichte, seinem Geist und Wesen gehört, ist ein religiöses Grundgefühl, das in jeder echten religiösen Regung und Haltung irgendwie mitschwingt und zur Geltung kommt. Es genügt, an R. Ottos Analyse des Erlebnisses des „Heiligen” zu erinnern. Das „Numinose”, das „Mysterium tremendum”, das hier als ein konstitutives Moment des religiösen Erlebnisinhaltes aufgezeigt wird, erscheint bei Barth und seinen Freunden aus dem wissenschaftlich-psychologischen Sachbezüge gelöst und in die Sphäre der religiösen Zeugnisaussage erhoben bzw. aus ihr heraus erfaßt. Sie sprechen als religiosi, wenn sie die unbedingte, unbeschränkte, ausschließliche und radikale Alleinherrschaft dieses religiösen Grundgefühles fordern und seine Alleingültigkeit vertreten. Wenn sie nur solche Urteile und Zeugnisse als religiös vollwertig, als der „Sache” entsprechend, um die es sich in allen religiösen Aussagen handeln sollte, gelten lassen, die von dem „absoluten Gegensatz” ausgehen oder auf ihn hinzielen, so gehorchen sie der in ihnen mächtigen religiösen Intuition. Sie lehnen die wissenschaftlich-theologische Einstellung ab, die sich bewußt und grundsätzlich auf den Boden der vielgestaltigen religiösen Erfahrungs- und Erscheinungswelt stellt und aus ihr in kritischer, vergleichender, sondernder Musterung die Maßstäbe zu gewinnen sucht, die aus dieser Welt selbst ihr entgegengebracht werden. Sie versuchen grundsätzlich und kramphaft, sich |9| nicht in die Sphäre des wissenschaftlichen Urteils hereinziehen zu lassen, das stets unter den doppelten, sachlichen und persönlichen, also in diesem Sinne „objektiven” und „subjektiven” Einflüssen steht. Sie streben mit aller Energie eine Beurteilung an, die deshalb, weil sie nur unter einer unbedingten religiösen Intuition stehen will, selbst in vollstem Sinne des Wortes „absolut”, losgelöst von der Relativität aller sonstigen Urteilsbildung zu sein, beansprucht.

Von dieser Einstellung aus — und nur von ihr aus — wird die Bedeutung ihres „kritischen Radikalismus” deutlich. „Kritisch” ist er in einem ganz anderen Sinn als jede Wissenschaft kritisch ist. Es ist die Kritik vom Absoluten her, — nicht die Kritik unter den allgemein-menschlichen, also relativen Voraussetzungen sonstiger Urteilsbildung, der sie Geltung verschaffen wollen. Charakteristisch sprechen sie deshalb von der „Krisis”, die in ihrer Botschaft zum Ausdruck kommt. Diese „Krisis” ist die schlechthin unbedingte und unbeschränkte Krisis, die vom Absoluten her über allem Menschlich-Geistig-Geschichtlich-Relativen erklingt. „Von Gott aus” kann allein der Spruch dieser Krisis erfolgen, und in dieser radikalen Erkenntnis stehen auch die, die ihm Folge geben, „in der Bewegung von Gott her”. „Diese ganze Welt ist böse”, — böse, nicht im ethischen Sinn, denn auch die ethische Beurteilung fällt ganz und gar unter das radikal-kritische Verdikt; sondern böse — im metaphysischen, absoluten Sinn. Sie ist böse — wiederum nicht vom Menschen aus gesehen; denn von hier aus ist sie „gut und böse durcheinander”, — sondern, wenn der Mensch „mit Gottes Augen sieht”. Diese Position bedeutet aber nichts geringeres, als daß der betreffende Mensch im „Jenseits” seiner selbst steht. „Es ist ein Herausgenommensein aus dem gewöhnlichen Dasein und — das ist das wichtigste! — ein Draußenbleiben” 12). Hierbei ist stets vor Augen zu halten, daß alle diese Hyperbeln nicht biblisch oder symbolisch oder irgendwie bedingt und partiell, sondern ganz und gar und durchaus absolut und eigentlich und direkt gemeint sind. Sonst würden sie ohne Ausnahme unter das vernichtende Urteil fallen, das alle „Mystik” von diesem Standort aus trifft. Vielmehr bedeutet die Botschaft dieser Krisis im ganz eigentlichen Sinn die Aufgabe, |10| „Wort Gottes zu reden”, und — wir glauben es gern — es ist die Qual dieser „verzweifelten Situation”, daß das eine menschliche „Unmöglichkeit” ist 13). So wird der Sinn des hier wirksamen „Radikalismus” deutlich. Es ist einerseits durch die Eigenart der religiösen, schroff dualistischen Verkündigung bestimmt und tritt in entsprechender Schärfe im Selbstbewußtsein der Träger dieser Verkündigung zutage. „Radikal” ist die Botschaft von der absoluten Gegensätzlichkeit des Göttlichen und Menschlichen, insofern sie von der allerletzten Voraussetzung und Bedingung nicht nur des Menschlichen, sondern alles Seienden und Geltenden überhaupt her erklingt, also zunächst dem Sinne ihres Ursprunges nach. „Radikal” ist sie als Botschaft von Gott, wie jede solche religiöse Botschaft — es sein nun von der Heiligkeit oder der Allmacht oder der Weisheit oder der Liebe und des Erbarmens Gottes — „radikal” ist. „Radikal” sind sie alle auch ihrem religiösen Gehalt nach; das heißt dann, daß sie allein letztlich alle anderen Botschaften und Aussagen inhaltlich bestimmen, begründen und erfüllen. „Radikal” sind sie damit auch ihrer Geltung nach, indem sie allen anderen Werten erst Geltung verleihen. Dieses alles aber sind sie lediglich, insofern sie rein und ausschließlich „Gottes Wort” sind. Im gleichen Maße und Sinne sind sie sämtlich auch „kritisch”, und zwar im Unterschied zu aller sonst möglichen Kritik „radikal-kritisch”. Denn sie heben alle anderen, menschlichen, geistigen, normierenden Standpunkte einer Kritik auf und sprechen „das Wort der Krisis” über sie alle wie über alles Nicht-Göttliche überhaupt aus. Insofern die Verkündigung Barths und seiner Freunde für den letezten, höchsten, alles bedingenden und entscheidenden Ernst aller Gottesbotscahft Herzen und Sinne vielfach wieder geöffnet hat, wo man das Verständnis für sie und den Willen der Unterwerfung unter sie verloren hatte, erfüllen sie eine wahrhaft prophetische Aufgabe. Als eine prophetische Botschaft — im Unterschied zu aller theologisch-wissenscahftlichen Besinnung — muß demnach ihre Verkündigung verstanden und gewertet werden, wordurch sie in die Reihe prophetischer Zeugnisse tritt, die sämtlich |11| und wesenhaft die radikal-kritische Tendenz und den Anspruch auf absolute Geltung in sich tragen. Von entscheidender Bedeutung aber ist für uns die Einsicht, daß eine derartige Verkündigung keine Angelegenheit einer Theologie als Wissenschaft im heutigen Sinne sein kann, daß sie nicht nur den Rahmen wissenschaftlicher Besinnung sprengt, sondern von einer grundsätzlich andersärtigen Höhenlage aus erfolgt, wie sie auch über alle mögliche Wissenschaft den Gerichtsspruch der „radikalen Krisis” ausspricht.

Das Neuartige und Charakteristische der Situation, die durch diese Verkündigung geschaffen worden ist, liegt nun darin, daß sie in einer Zeit und innerhalb eines Kulturbewußtseins auftritt, die im Gegensatz zu früheren, klassischen Zeiten prophetischer Verkündigungen durch die Grundsätze und Methoden der modernen Wissenschaft ihr geistiges Gepräge erhalten haben. Da diese wissenschaftlichen Prinzipien nichts anderes sind und sein wollen als die Voraussetzungen und Bestimmungen des allgemeinen modernen Denkens, nur auf die Höhe exakter methodischer Besinnung erhoben, so pflegen geistige Strömungen, die sie ignorieren oder ihnen widerstreiten, von der Macht der Denkart und Erkenntnisgrundsätze des Zeit- und Kulturgeistes in den Schatten, zu dem Haufen der absonderlichen Sektenlehren gedrängt zu werden. Wollen sie diesem Schicksal entgehen, so bleibt ihnen nichts anderes übrig, als den Kampf gegen das moderne Denken und seine wissenschaftlichen Prinzipien von der Plattform exakten, konsequent wissenschaftlichen Denkens aus aufzunehmen. Aus dieser Zwangslage heraus wird auch die religiöse Botschaft Barths und seiner Freunde als eine neue „Theologie” dargeboten. Gleichwohl ist in der Verkennung und Nichtberücksichtigung der verschiedenen Höhenlage und Zweckbestimmung prophetischer Verkündigung und wissenschaftlicher Besinnung der erste verhängnisvolle Fehlschritt zu sehen, dessen Folge zunächst die Verwirrung der Blickpunkte und Methoden und zugleich der polemischen Diskussion ist. Wenn aber einmal die Grenzlinien zwischen beiden Gebieten verwischt sind, wenn die Aufgabe der „Theologie” mit der Predigt im Sinne der prophetischen Verkündigung in eins gesetzt ist 14), dann bleibt nur der doppelte Weg: entweder den religiösen |12| Radikalismus, der ihrer Verkündigung von der absoluten Gegensätzlichkeit von Gott und Welt innewohnt, zu einem „radikalkritischenSystem umzuformen und auszugestalten, daß eigene geistige Voraussetzungen, Grundsätze und Methoden aufzustellen unternimmt, oder aber einen Ausgleich zwischen dem religiösen Radikalismus ihrer Verkündigung und der geistigen Grundrichtungen der Kultur zu versuchen, einen Ausgleich, der dann auf ihren religiösen Ausgangsstandpunkt einschneidende Rückwirkungen ausübt. Der augenblickliche Zustand innerhalb der Barthschen Bewegung und ihren einzelnen Vertretern spiegelt dieses Dilemma wieder. Ihre Kritik verbindet allenthalben spezifisch wissenschaftliche mit spezifisch religiösen Argumenten, und bei Bestreitung der ersteren ziehen sie sich gern auf die religiöse Motivierung zurück, die dann aber ihre anfänglichen Positionen nicht zu halten vermag 15). Die gleiche Zwiespaltigkeit kennzeichnet auch ihre Ausführungen da, wo sie die Linien der geforderten radikal-kritischen „dialektischen” „Theologie des Wortes” aufzeigen. Hier treten in der Vorsicht bzw. Unbedenklichkeit des Vorgehens bezeichnende Unterschiede zwischen den einzelnen Vertretern zutage. Allgemein darf wohl gesagt werden, daß K. Barth durch die grundsätzlichen Fragestellungen von dem religiösen Grundmotiv dieser neuen Position aus am stärksten bestimmt ist, während Gogarten, einem lebhaften konstruktiven und spekulativen Zuge folgend, zu theologischem Neubau energisch vordrängt; Brunners Schleiermacherbuch hingegen stellt den gewagtesten, unbedenklichen Vorstoß auf der Linie innerwissenschaftlicher Kritik von gewissen religionsphilosophischen Voraussetzungen aus dar, in denen er sich mit den Vorgenannten einig weiß 16).

Wenn nun auch gelegentlich der Wille zur Verständigung — |13| wenn auch nicht zu einem Ausgleich — mit den Bedingungen und Voraussetzungen wissenschaftlicher Theologie im vorbemerkten Sinne zu spüren ist 17), so kann doch kein Zweifel sein, daß im wesentlichen mit aller Energie der erste Weg beschritten und der Versuch unternommen wird, von der prophetischen Kernverkündigung her ein radikal-kritisches System der Theologie mit eigenen Voraussetzungen, Grundsätzen und Methoden zu errichten. Hier aber entsteht nun das Dilemma, daß jedenfalls auf diese umfassende wissenschaftliche Hilfskonstruktion, auf die philosophischen und theologischen Ideen und Methoden der radikal-kritische Charakter jener Gottesbotschaft von der „ewigen Krisis” und dem „absoluten Gegensatz” nicht übertragen werden kann. Dieses Unternehmen steht mit allen früheren und späteren Versuchen, das Zeugnis von dem „Unsagbaren” zu einem geisteswissenschaftlich-theologischen System umzuformen, auf einer Stufe. Gewiß schwingt in jeder echt und tief religiösen Geisteshaltung das radikal-religiöse Moment mit und wirkt auf die Formung und Entfaltung der theologisch-wissenschaftlichen Anschauung in kritisch-radikalisierende Richtung. Aber dieser kritische und radikale Zug der theoretischen Auseinandersetzung hat durchaus nur die Bedeutung und das Recht, das einer jeden konsequent verfolgten idealen Gedankenrichtung aus der zugrunde liegenden Idee zufließt. „Radikal” heißt hier nur noch „bis zum äußersten konsequent”, und die Grenze dieser Konsequenz im Verhältnis zu anderen ideellen Ansprüchen zu bestimmen, ist Sache der Einsicht des Trägers dieser Anschauung. „Kritisch” aber ist ein solcher Standpunkt nach der Art und Weise aller ideell begründeter Anschauungen der Wirklichkeit ihren Problemen und Lösungen gegenüber.

Für die Wortführer der „Theologie der Krisis” und „des Wortes” entstehen in diesen Fragen und Bestimmungen Schwierigkeiten und |14| Verwicklungen, die auf Form, Inhalt und Geltungsanspruch ihrer „Theologie” von einschneidender Wirkung sind. Gogarten selbst führt es verschiedentlich aus, analog gleichsinnigen Erörterungen Barths 18), daß die Stelle, von der her das Wort der Krisis erklingt, kein Standort für eine mögliche menschliche Position sei. Man muß „alles, Tugend und nationale Tüchtigkeit, religiöses Interesse und Frömmigkeit, Religion und Gotteserlebnisse weit hinter sich gelassen haben, um in das Unbedingte zu treten, um sich auf einen Boden zu stellen, der kein Boden mehr ist” 19). Nun ist aber doch eben dieser Standort der ihre, auf den sie Hörer und Leser nicht nur zu führen, sondern auch festzuhalten und zu verankern unternehmen 20). Es ist der Standort, von dem aus sie das Gericht der radikalen Krisis aufweisen über Kultur und Religion, ihre Grundideen und vornehmsten Erscheinungsweisen, insbesondere über alle mystische oder idealistische Religiosität. Es ist der Standort, von dem aus sie ihre Dialektik als die begriffliche Konstruktion der — allein wahren, weil allein von der Voraussetzung des „absoluten Gegensatzes” 21) ausgehenden — Offenbarungstheologie entfalten. Von diesem Standort allein wächst ihnen das prophetisch-exklusive Pathos her, das die Signatur so vieler kritischen wie positiven Darlegungen, insbesondere auch Erwiderungen ist. Und in der Tat, wäre ihre „Voraussetzung” unbezweifelbar die des Evangeliums und deshalb diese „Theologie” des „Wortes der Krisis” die einzige, die den Sinn der göttlichen Botschaft erfaßt und die Aufgabe und Bedingungen ihrer Verkündigung allein erkannt hätte, eben weil sie als „Theologie” wirklich und allein „von da her”, dem unmöglichen Standort im Unbedingen her geboren ist, so wäre ihr der einzigartige Geltungsanspruch vor allen anderen Irrtheologien nicht zu verweigern.

Hier ist der Punkt bezeichnet, von dem aus die |15| Zusammenschweißung der vielgestaltigen, heterogenen Elemente der Größe, die heute als eine im Tiefsten einheitliche religiös-theologische Bewegung vor dem zerspaltenen und gebrochenen religiösen Bewußtsein unserer Zeit sich aufbaut, nach ihren Ursprüngen, Voraussetzungen und Bestimmungen sich erkennen läßt. Hier laufen von ihnen ja die Linien zusammen, die es nun in einigen wesentlichen Punkten zu markieren gilt. Die andere Hauptfrage, wie der Inhalt der religiösen Kernbotschaft und ihr Anspruch, den alleingültigen Ausdruck der Botschaft des Evangeliums an die Menschen und ihrer Glaubensantwort zu sein, vom Standpunkt des christlichen Bewußtseins aus zu werten sei, bleibt unserer Fragestellung gemäß ausgeschaltet 22).


3. Die eigenartige Verwicklung der Lage für die neue Botschaft dieser Theologie hat ihre zeitgeschichtliche Ursache in dem Zusammentreffen der religiösen Kernbotschaft mit einem für sie in besonderem Maße unzugänglichen wissenschaftlichen und kulturellen Bewußtsein, wie bereits angedeutet wurde. Es bedarf deshalb zunächst eines Blickes auf die philosophisch-kritische Seite dieses Problems, das mit großer Schärfe E. Brunner in seinen beiden oben angeführten Schriften aufgegriffen hat. Hier ist der Angriff auf die Voraussetzungen und Grundlinien der „modernen” theologischen Denkart unternommen und so durchgeführt, daß K. Barth selbst in seiner teilweise recht scharfen, einschneidenden Kritik des Buches über die Theologie Schleiermachers es ihm bescheinigt: „Zweifellos kann Brunner auch in diesem Buche das, was z.B. auch Gogarten und ich gegen die Theologie, von der wir herkommen, auf dem Herzen haben, vielen einleuchtender, schlagender, handgreiflicher sagen, als wir” 23). Die Auseinandersetzung wird unter dem Antrieb des religiösen Kernmotivs, aber von der Basis „radikaler” philosophischer Selbstbesinnung aus unternommen: „Es gibt eine umfassende transzendentale Besinnung auf die letzten kritischen Gesichtspunkte, an denen sich alle Geistesarbeit zu |16| rechtfertigen hat” 24). In diesem Zusammenhang kommt es nun nicht auf sein Verständnis Schleiermachers und die Art seiner Kritik an, gegen die sich Barths Bedenken richten, sondern auf die gegensätzliche Begründung seiner eignen Position. So vieldeutig und fraglich seine Bestimmung des Begriffs der „Mystik” und die Unterordnung Schleiermachers unter ihn ist, so deutlich und klar ist das, was er als „Theologie des Wortes” unter der Zustimmung Barths ihm gegenüberstellt. „Mystik” und „Wort” werden hier als korrespondierende Glieder eines kontradiktorischen Gegensatzes gefaßt und in solchem Gegensatz zu den grundlegenden Begriffen dieser Gesamtanschauung erhoben. Auf eine oft sehr gewaltsame Weise wird alles zur „Mystik” in dem gemeinten abwertenden Sinne geprägt, was nicht der Glaubenshaltung entspricht, die in der „Theologie des Wortes” gefordert wird.

Von diesem Gegensatz, insbesondere dem grundlegenden Begriffe des „Wortes”, der in seiner sprachlich-logischen, psychologischen und theologischen Eigenart alles weitere bestimmt, ist auszugehen 25). Denn die Terminologie spielt in dieser Theologie eine ausschlaggebende Rolle. Das „Wort” pflegt die Logik als das Zeichen einer Vorstellung, eines Vorstellungsinhaltes zu verstehen. Es ist der „Ausdruck für den innerlich gegenwärtigen Gehalt des Vorgestellten” 26). So wohnt ihm von vornherein eine speziell und ausschließlich formale, ja funktionelle Bedeutung bei, es ist lediglich Träger, Form, Vermittler, im logischen wie im psychologischen Sinn. Wo es sich um ein bestimmtes „Wort&3148; handelt, ist stets ein Sinngehalt gemeint, der in einer seiner meist vielfach zu variierenden Formen erfaßt wird. Die an den eigentlich gemeinten Gehalt heranführende Frage ist demnach stets die nach dem Sinn, der Bedeutung, dem Inhalt eines „Wortes”; erst mit ihr ist die „Botschaft”, die „Verkündigung” erreicht. Alle auf den Gehalt abzielende Wissenschaft wird deshalb die Fragen nach dem Sinn und der Aneignungsweise des Wortgehaltes in den Mittelpunkt zu stellen haben. Damit |17| sind also die sachlichen und formalen Beziehungen und gewisse gemeinsame geistige Voraussetzungen als die Vorbedingungen alles „Wort”-Verständnisses zwischen geistigen Wesen überhaupt erkannt. Auf die Theologie angewandt ergeben sich so die beiden Zentralfragen: welches ist der Inhalt der christlichen Verkündigung? und wie entsteht der Glaube? Unbeschadet der Eigenart und Sonderstellung sowohl des Gehaltes als der Aneignungsweise der christlichen Verkündigung gelten die angedeuteten Grundbedingungen alles Wortverständnisses auch für sie, und die Aufgabe der Theologie besteht zu einem wesentlichen Teil in der Erfassung ihres Gegenstandes von diesen durchaus in der „Sache” liegenden, nicht etwa von ausßen herangebrachten Grundbestimmungen aus. Damit aber ist die Theologie geradezu auf die Brücken gestellt, auf die Voraussetzungen aufgebaut, die radikal abzubrechen und mit dem „absoluten Gegensatz” zu vertauschen der Sinn und das Ziel der radikalkritischen Theologie ist. Nicht also den entwickelten logischen Wortbegriff, sondern einen völlig anderen legt sie ihrem Gebäude zugrunde.

Obgleich nun nach Brunner „unser nominalistisches Zeitalter es mit Wortfragen nicht allzu wichtig zu nehmen pflegt” 27), sind wir gehalten, es mit dieser „Wortfrage” sehr genau zu nehmen, werden aber in der Erwartung besonderer Vorsicht und Präzision auf jener Seite bitter enttäuscht. Zunächst zeigen übereinstimmende Ausführungen bei Barth, Brunner u.a. 28), daß auch sie Verständnis und Gebrauch des Wortbegriffes an eine bestimmte logische Auffassung anschließen.

Es wird die Frage sowohl nach dem Wortgehalt als auch nach der Aneignungsweise des Wortgehaltes ignoriert und das „Wort” als Korrelatbegriff „dem Geist” an die Seite gestellt. Und zwar werden beide Inbegriffe zunächst in ihrem allgemeinen, praktischen Sinne gebraucht. Die populäre, unkritische Meinung, die dem Worte gegenüber Ausdrucksform und Inhalt nicht zu unterscheiden pflegt und deshalb die Frage nach den Voraussaetzungen und Spannungen geistigen Verstehens nicht kennt, sondern von Standpunkt des Alltagsgespräches aus reflektierend im „Wort” des anderen seinen |18| „Geist” unmittelbar und unkritisch erfaßt, wird nun in einer eigenartigen Weise mythologisiert und zur Grundlage der „Theologie des Wortes” gemacht. Es liegt auf der Hand, daß diese naive Auffassung des „gesprochenen Wortes” vom Standpunkt des „Hörenden” wie im alltäglichen Leben überhaupt, so in weiten Strecken der Bibel die unbesehene und selbstverständliche Darstellungsform ist, deren sie die Frommen des alten und neuen Bundes mit vollem Recht bedienen, um „Unsagbares” auszudrücken, wie auch wir im Predigt und Glaubenszeugnis es allerwege gleichfalls tun. Ebenso deutlich aber ist auch, daß diese Auffassung von den Vertretern der dialektischen Theologie in einer ganz anderen Weise und mit abwegigen Konsequenzen „logisch”, polemisch, theoretisch, konstruktiv und dialektisch verwandt wird. Dem „Geist der Sprache, der, tiefer verstanden, der Geist überhaupt ist” 29), geben sie vor zu folgen, wenn sie aus ihr als einem dogmatischen Prinzip die Berechtigung ableiten, alle theologischen Bemühungen von der Grundlage der Unterscheidung von Ausdrucksform und Sinngehalt und der Frage nach der Aneignungsweise aus als „Psychologismus”, „Immanenz”- und „Identitätsphilosophie” zu verurteilen, und ihrerseits auf ihr mit großer „Willkür” ihre Begriffsdialektik aufbauen. Von dieser nun gewiß menschlichen und nicht „von daher” stammenden Voraussetzung aus werden wir vor den konstitutiven „radikalen”, „absoluten” Gegensatz gestellt zwischen dem Wort-Geist-Ungegebenen-Transzendenten-Absoluten und dem Gegebenen-Sachlichen-Dinglichen-Diesseitigen-Relativen.

„Uebergänge gibt es im Raum und in der Zeit, in der Natur, aber nicht im Geist. Der Geist ist das Gebiet der Entscheidungen, der Gegensätze, der Gegen-Setzungen, der Ur-teilungen, darum nicht des Relativen, sondern des Absoluten.” Geist wird nur als Geist verstanden, wenn er „als Nichtnatur, als Nichtgegebenes” erkannt wird 29). „Das erste Gegebene ist nie eine Gegebenheit” 30). „Zum Psychologismus aber wird die Betrachtung . . . wo der Sinn des Geistes . . . verloren gegangen, wo das unumkehrbare Urverhältnis: Wort-Geist vergessen und an seine Stelle die Mystik getreten ist, |19| die das Verhältnis von Wort und Geist umkehrt, das Wort zum bloßen Ausdrucksmittel macht und dem Menschengeist ein nicht durch das Wort vermitteltes Verhältnis zu Gott sichern will.” „Was geschichtlich ist, ist relativ.” „Wer in die Wahrheit eintritt, tritt eben damit aus der Zeit heraus . . Nur die Wahrheit setzt die Geshichte außer Kraft, und mit ihr alles, was der Geschichte angehört . . Die Kategorie des Wortes ist die der Gleichzeitigkeit.” Denn sie ist die „Kategorie, an der immer Absolutes entspringt” 31). Mit solchen beliebig vermehrbaren Sätzen mag man etwa die dialektischen Operationen mit den Begriffen „Zeit” und „Ewigkeit” vergleichen, die Gogarten in seinem Aufsatz: Offenbarung und Zeit 32) vornimmt, und man hat gleichsam die „theologische” Anwendung der hier aufgestellten philsophischen Axiome. Nun sind es, dem antithetischen, radikalkritischen Charakter dieser Theologie entsprechend, nicht die überall mitenthaltenen Wahrheitsmomente, sondern die „radikalen” Ueberspannungen, die ihre eigenartige Position begründen, weil gerade auf ihnen der „radikale” Widerspruch beruht. Der logisch bestimmende Gegensatz dürfte der zwischen dem Geist als dem Nichtgegebenen und dem Gegebenen als dere Welt der „Dinge” sein. Nun ist — ich darf auf die mit Rücksicht auf dieses Problem formulierte Bestimmung der Theologie als Wissenschaft, S. 2 ff. verweisen — „Geist”, wenn für uns überhaupt vorhanden, zweifellos auch „gegeben”, zwar nicht naturhaft und dinglich, wohl aber geistig, als „Gegenstand” unseres Denkens, in der Form von Gedanken und Worten: und zwischen dem Objekt als „Ding” im realen und als „Gegenstand” im logischen Sinne gilt es genau zu unterscheiden. Wird dieser grundlegende Unterschied — wie in der dialektischen Theologie — übersehen, so gerät allerdings die Beurteilung des Geistigen durchweg unter „dingliche” Kategorien, und es gibt keine weitere Schranke und Abgrenzung für das Gebiet des Geistes der Welt der Dinge gegenüber. Die logische Subjekt-Objektsbeziehung, die Anwendung der Kategorie der Kausalität, überhaupt jede reflektierende Haltung dem Geistigen als logisch „Gegebenem” gegenüber, wie sie von den Geisteswissenschaften in allen Zweigen geübt werden, |20| werden als „Verdinglichung” und „Naturalisiereung” des Geistes verurteilt. „Die Kategorien Ursache-Wirkung und Anspruch-Gehorsam schließen sich gegenseitig ebenso schroff aus, als Ding und freier Geist sich ausschließen” 33). „Der Psychologismus ist die Verdinglichung eines Nichtgegebenen zum Gegebenen.” „Das Kausalsystem ist, wie das Wort Ursache richtig zum Ausdruck bringt, nur auf Dinge anwendbar. Ja, sie ist mit dem Dingbegriff identisch.” „Wort als Ur-sache setzen ist doch wohl barer Unsinn” 33). Nun „wirken” aber doch Gedanken und Worte ohne Unterlaß im Menschen und zwischen ihnen, sind also fortwährend zweifellos „Ursachen”, und trotzdem keine „Dinge”, und ebensowenig werden sie es dadurch, daß wir sie zum „Objekt” unserer Beurteilung machen und uns „gegenständlich” zu ihnen verhalten. Oder sollen wir darüber belehrt werden, daß man nur bildlich von geistigen „Wirkungen”, „Ursachen”, „Bedingungen”, „Kräften” sprechen kann? Dann würden wir in Bescheidenheit daran erinnern, daß Ausdrücke wie „Ort” und „Gleichzeitigkeit” der Wahrheit, „Jenseits” und „Distanz”, „Stimme” und „Wort” Gottes, von anderen wie „Gletscherspalte” und „Vernichtungszone” ganz zu schweigen, auch jedenfalls bildlich gemeint seien, daß ferner das neue Testament sich der verworfenen Ausdrücke auch bedient. Aber nein, es wird ja mit dem Nachweis dieser „dinghaften” Kategorien der Vorwurf der Naturalisierung, Verdinglichung des Geistigen, des „Verrates am Geiste” gegen Schleiermacher und alle „Mystik” und „Identitätsphilosophie” begründet, und das ist nur deshalb möglich, weil ihr bild- und gleichnishafter Charakter bei dem Andersgerichteten verkannt wird. Auf diesem summarischen Mißverständnis als selbstverständlicher Voraussetzung baut sich alsdann der Komplex von Mißverständnissen und Fehldeutungen in imposanter Konstruktion auf, denen wir in der „radikalen” Kritik des modernen Geistes allenthalben begegnen. Wie aber verhalten sich die Glieder jenes „radikalen” Gegensatzes tatsächlich zueinander? Es sollte eine logisch-philosophische Unterscheidung zwischen dem „Gegebenen” und „Nichtgegebenen” sein, die den weiteren Folgerungen vom Standpunkt wissenschaftlicher Besinnung auf des Geistes Sinn und Würde ihren Halt geben sollte. |21| Tatsächlich aber steht der religiös-radikale Gegensazt zwischen Gott als dem „Absoluten” und allem menschlich Relativen als eigentliches Motiv im Hintergrund. Auf ihn werden, damit er philosophisch-kritisch wirksam werden könne, die neuen philosophisch verstandenen Antithesen Absolut-Relativ, Ungegeben-Gegeben, Transzendenz-Immanenz aufgepfropft. So wird eine kritische Abwehrphalanx geschaffen, von der aus die wissenschaftliche Fehde gegen „Mystik”, „Immanenz” und „Identität” geführt wird.


4. Die Grundlinien dieser Polemik an einigen Hauptproblemen aufzuzeigen, soll in Kürze versucht werden, um an ihnen das Zusammenwirken des religiösen Grundmotivs mit den axiomatischen philosophischen Voraussetzungen zu verdeutlichen, wodurch erst die innere Struktur der Polemik Barths, Gogartens, Brunners u.a. zutage tritt.

Das Kernproblem in der Bekämpfung aller „Mystik”, „Innerlichkeit” 34), Idealismus, Identitätsphilosophie, Immanenz und der von hier aus verstandenen „Geschichte” dürfte in der Frage nach der Sinn und Wert des „Erlebnisses” zu suchen sein. Denn in der Tatsache und mit dem Wort „Erlebnis” wird die seelische Aufnahme eines geistigen Sinngehaltes konstatiert und behauptet. Damit ist die Brücke geschlagen, die Verbindung hergestellt. Damit ist dem Postulat der absoluten Scheidung die „unmittelbare” „Erfahrung” entgegengestellt. Damit ist der Weg betreten, der zu den Irrtümern der Verquickung des Absoluten und Relativen, des Göttlichen und Menschlichen, zu den Anschauungen der „Immanenz” und „Identität” führt. Auch hier soll „radikal” vorgegangen und von vornherein das Verdikt unfrommen und ungeistigen Verhaltens ausgesprochen werden. „Die radikale Scheidung . . . allein erledigt den Irrtum der Identität von Gott und Mensch.” Der Identitätsglaube ist „der eigentliche Frevel des Gedankens und des sogenannten geistigen Lebens überhaupt”, und in der heutigen „Innerlichkeitskultur ist der Identitätsglaube, ist das prinzipielle Denken „praktisch” |22| geworden” 35). Mit dem prinzipiellen Denken sind dabei die Voraussetzungen wissenschaftlichen Denkens gemeint, von denen aus Herrigel gegen die Lösungsversuche der radikalen, dialektischen Theologie polemisiert 36). „Die radikale Scheidung ist bis auf den Grund, bis auf die Wurzel durchzuführen. Nur dann ist sie die Scheidung von Gott und Mensch.” „Das religiöse Erlebnis, auf welcher Stufe es sich auch abspiele, ist, sofern es mehr als Hohlraum, sofern es Inhalt, Besitz und Genuß Gottes zu sein meint, die unverschämte und mißlingende Vorwegnahme dessen, was immer nur von dem unbekannten Gott aus wahr sein und werden kann. Es ist in seiner Geschichtlichkeit, Dinglichkeit und Konkretheit immer der Verrat an Gott” 37). „Wer sich unterwindet, das Ewige zeitlich zu erleben, zu denken, zu besprechen, darzustellen und zu vertreten, der sagt Gesetz. Und wer Gesetz sagt, der sagt auch Uebertretung” 37). So treibt der Eifer für das radikale religiöse „Nein”, für den schlechthinverborgenen, unbekannten Gott und die absolute Transzendenz dazu, die unüberbrückbare „große Kluft” auf allen Gebieten aufzurichten, von denen aus der Wechsel von der rein theoretischen zur religiösen Betrachtungsweise nahe liegt. Dieser Fall ist nun aber überall in der Reflexion über geistige Fragen gegeben, so daß die radikale Scheidung über sämtliche geistige Sachgebiete bis in das Zentrum des Ich, in das Erlebnisvermögen des Subjekts hinein durchgeführt werden muß. Der systematischen Durchführung dieses Postulates fällt nun allerdings die Einheit, der Sinn und die Selbsterfassung des menschlichen Geistes durchaus zum Opfer. Alle Besinnung über die tiefsten Fragen des Lebens, seien sie wissenschaftlicher Reflexion oder persönlichem Bedürfen entsprungen, die bisher als ein gewiß mit allen menschlichen Gebrechen und Verdunkelungen behafteter Gottesdienst empfunden werden konnten, trifft der Fluch. Der Cherub mit dem flammenden Schwert tritt vor die Pforte der eigenen Seele und in frevelhaften Wahnwitz verkehrt sich schicksalhaft des Toren sündiger Erkenntnisdrang.

Wenn das wirklich die Konsequenz der „radikalen Scheidung” |23| ist, sollte nicht dann die Frage sich aufdrängen, ob nicht im Ansatz ein entscheidender Fehler oder Trugschluß liegt? Sollte nicht die Absolutheit dieser religiösen Botschaft in dieser Form und ihre Ausmünzung zu diesen universalen Folgerungen auf das ernstlichste zu überdenken sein? Man begegnet auf Schritt und Tritt dem Argwohn, daß der Sinn der heutigen Geistesrichtung in der Gleichsetzung des Menschen mit Gott, in der Vereinerleiung beider, in der völligen Mißachtung der Distanz zwischen beiden zu sehen sei. Nur eine eingehende, besonnene Nachprüfung der geistesgeschichtlichen Erscheinungen in ihrer konkreten Gestalt, so der Religionsphilosophie des Idealismus, der Identitätsphilosophie, insbesondere aber der axiomatischen Voraussetzungen aller philosophischen Selbstbesinnung auf diesen Vorwurf der Hybris hin dürfte hier zur Klärung führen. Soviel aber darf wohl festgestellt werden, daß die hier schlummernden Probleme mit den Siebenmeilenstiefeln der Begriffsdialektik überrannt werde, wenn Gogarten sagt: „Ist es ein Identitätssatz, wenn ich sage: Ich bin ich? Oder klafft nicht zwischen dem ersten Ich, das das Ich ist, durch das ich von Ewigkeit, von Gott her bin, und dem zweiten, das ich jetzt in diesem Augenblick, in dieser Zeit bin, klafft nicht zwischen ihnen ein Gegensatz, wie zwischen Zeit und Ewigkeit? Und soll man wirklich im Ernste fragen, ob ein Mensch in seinem Leben diesen Gegensatz aufheben kann? . . Hat man wirklich keine Ohren, um zu hören, daß es Gedankenlosigkeit, die furchtbare Gedankenlosigkeit ist, die den heutigen Menschen überfällt, sobald er vom Ewigen, von seinem eignen Sein im Verhältnis zur Ewigkeit spricht, wenn man meint, dieses „Ich bin ich” sei auf irgendeine Weise dem göttlichen: „Ich bin, der ich bin” gleich? Und doch ruhte das ganze heutige Denken auf diesem Irrtum, auf dieser Blasphemie” 38). Wirklich? Ist das der Sinn der „Erlebnispsychologie”, der Geschichtsphilosophie, idealistischen Glaubens und des Tastens nach den Quellen des Ewigen in der menschlichen Geistesgeschichte? Blendet nicht hier wie so oft der Radikalismus als formales Prinzip die Augen, so daß die bedeutsamsten sachlichen Unterschiede, Abstufungen und Richtungsmerkmale übersehen werden? Schon die summarische Art, die heterogensten |24| Sachgebiete durch einige willkürlich ausgeprägte Oberbegriffe zum Zwecke der Aburteilung zusammenzukoppeln, muß gegen die Berechtigung dieser Art von extensivem, prinzipiellem, — nicht religiösem — Radikalismus mißtrauisch machen. Man analysiere etwa Brunners grundsätzliche Ausführungen über „Psychologismus” oder „Historismus” 39), und man ist ständig versucht, die „Zweideutigkeit” seiner Formeln und „Abbiegung” in der Beweisführung zu kritisieren, die er — um von „peinlicheren” Ausdrücken wie „Maskierung”, „sophistischen Mitteln”, „unerlaubten Manövern” 39) u.a. abzusehen — Schleiermacher nachzuweisen bestrebt ist. — Psychologismus im Sinne einer „pathologischen” Verirrung ist nicht in dem Versuche zu sehen, die „Mannigfaltigkeit der religiösen Erfahrung” in der „Wirklichkeit” des „Gegebenen” aufzusuchen, sonodern in dem gewiß vergeblichen Bemühen, das Normative aus dem bloß Tatsächlichen durch psychologische Ableitung gewinnen zu wollen. Und wer summarisch urteilt, der Gegensazt zwischen Mystik und Evangelium sei der zwischen Gott als Natur und Gott als Geist, und das Gegebene, das Vorhandene (auch ds psychisch Gegebene) sei Natur, mag man auch mit dieser Natur noch so sehr Geistiges, Göttliches auszudrücken meinen, denn Natur und Dasein sei dasselbe; wer dekretiert: „die Geschichte ist das Gebiet der Relativitäten. Der Glaube aber hat es mit dem Absoluten zu tun. Darum ist er nicht auf die Geschichte, sondern auf das Ende der Geschichte gerichtet”, der zerhaut die Knoten, anstatt sie zu lösen 39). Es ist nun gewiß zu beachten, daß K. Barth in der kulturkritischen Ausmünzung der radikalen Axiome sehr viel besonnener und zurückhaltender verfährt. Aber im Prinzip, in der Vertretung des Rechtes und der Gültigkeit solchen Unternehmens, im Willen zur Grenzüberschreitung sind sie beide und auch Gogarten einig. Auch Barth kann „Großes und Göttliches” dem Nichtigen und Historischen mit Selbstverständlichkeit entgegensetzen und Gogarten kann diktieren, daß „Individualismus und Autorität sich gegenseitig ausschließen”, um so dem Idealismus den Lebensnerv zu durchschneiden 40). Der Unterschied zwischen ihnen und Brunner ist wesentlich in dem stärkeren |25| Mitschwingen des religiösen Grundtones zu sehen als der Erinnerung daran, daß diese radikale Kritik „aus einem absoluten Jenseits der Dinge zu stammen” beansprucht 41). So richtet sich ihre Kritik in gesammelter Energie, wenn auch von den gleichen prinzipiellen Voraussetzungen aus, auf die „Religion” und Religionsanschauung der Moderne und setzt sie in scharfen Gegensatz zum „biblisch-reformatorischen Glauben”; auch hierin sind sie mit Brunner einig, der wiederholt und geflissentlich betont, daß er Schleiermacher nur als Prototyp moderner Religionsauffassung nach seinen Voraussetzungen und Konsequenzen analysiere.

Die Religionskritik der dialektisch-kritischen Richtung bietet grundsätzlich über die bisher aufgezeigten Grundlinien hinaus wenig Neues. Als der Versucht, „von Gott her die Religion in Frage zu stellen”, führt sie unter wechselnden Gesichtspunkten die These aus: „Religion ist die Anmaßung, einen absoluten Gegensatz, den zwischen Schöpfer und Geschöpf, vom Geschöpf her überbrücken zu wollen” 42) „Jesus hat mit Religion einfach nichts zu tun.” „Mit dem Moment, wo Religion bewußt Religion, wo sie eine psychologisch-historisch faßbare Größe in der Welt wird, ist sie von ihrer tiefsten Tendenz, von ihrer Wahrheit abgefallen zu den Götzen. Ihre Wahrheit ist ihre Jenseitigkeit, ihre Weltlichkeit, ihre Nichtgeschichtlichkeit” 43). Zunächst ist zu beobachten, daß hier von Religion schlechthin, von aller „religiösen Gebärde”, in allen Schattierungen, Abstufungen und Nuancen die Rede ist. Der radikalen Kritik „von Gott her” unterliegt eben alles in schlechthin gleichem Maße und Sinne, und nur durch einen Sprung ist von hier aus die Basis zu erreichen, von der aus eine irgendwie spezielle Kritik einer besonderen Frömmigkeit oder Religion möglich wird; allerdings wird dieser Sprung unbedenklich unternommen und dann, dem tiefen religiösen Sinn dieser „absoluten Krisis” zuwider, die spezifischen Merkmale moderner („idealistischer”, „monistischer”, „autoritätsfeindlicher”, „mystischer”) Religiosität verurteilt 44). In welchem Sinne und innerhalb welcher |26| Grenzen diese Kritik berechtigt ist, das hängt hier, wo wir uns dem Zentrum der religiösen Verkündigung dieser Theologie erheblich nähern, nicht allein von den hier untersuchten allgemeinen kritischen und axiomatischen Voraussetzungen, sondern in erhöhtem Maße von der Beurteilung ab, die die religiöse Kernbotschaft von der „radikalen Krisis” als einer von vielen menschlichen Auffassungen des Evangeliums findet.


5. Im Rahmen dieser Untersuchung bedarf die Frage nach den Grundlinien der Position der „Theologie der Krisis” einer kurzen Erörterung, die an das anzuknüpfen hat, was oben über die radikalkritische Auffassung des Wort-Geist-Verhältnisses gesagt wurde. Die Beziehung des Sprechenden zum Hörenden wird dem täglichen Leben entnommen, so wie sich dieser Vorgang dem unkritischen, naiven Bewußtsein darstellt, im Gegensatz zur wissenschaftlichen Analyse und Reflexion, die der „Verdinglichung” und Naturalisierung beschuldigt wird. Das Wort im „sprachlichen Sinn” 45) ist hier das Primäre, nämlich für den „Angesprochenen”, und wird von ihm, der durchaus „praktisch” und nicht „wissenschaftlich” eingestellt ist, hingenommen, ohne daß die Frage nach dem „Gehalt”, der Möglichkeit seiner „Aneignungsweise” und den Merkmalen ihrer Zuverlässigkeit aufgeworfen würde. Nun gilt es aufs deutlichste sich vor Augen zu halten, daß in dem Verhalten des Hörens gegenüber dem Gesprochenen allein ein rein formales Moment, das Schema eines Vorganges, gegeben ist. Insofern steht es der anderen, als „wissenschaftlichen” gekennzeichneten, ebenfalls zunächst formalen Verhaltungsweise gegenüber. Während sich aber bei dieser, ihrer eigensten Intention nach, die Aufmerksamkeit auf die Art und Mittel richtet, sich der „Sache” auf zuverlässigem Wege zu vergewissern, wird diese Möglichkeit dort abgeschnitten und der allerstärkste Nachdruck darauf gelegt, daß es bei dem rein „aktuellen” Gegenüber von Redendem und Hörendem, Gesprochenem |27| und Gehörtem, „Anspruch” und „Annahme” bleibe. Schon von hier aus wird deutlich, daß durch diesen Ausgangspunkt weite Fragenkomplexe, so nach der Entstehungsweise, den Geltungsbedingungen und der Vergewisserung der „Wortaufnahme”, d.h. des Glaubens und der Heilsgewißheit, von vornherein unzugänglich bleiben. Mit der — zunächst rein formal, auditionell und rezeptiv zu verstehenden — „Aufnahme” des „Wortes” hört alles Fragen auf, und das ganze Interesse konzentriert sich darauf, daß dieser Vorgang in dieser Form erhalten bleibe. Die Konsequenz dieser Auffassung ist, daß die Qualität, das „Was” des „Gehaltes” in der Ausdrucksform des Wortes durch keine an sie anknüpfende, reflektierende Besinnung gewonnen werden kann. Damit überhaupt aus dem Vorgang ein inneres Verhältnis, eine Bezogenheit werden könne, muß zunächst eine recht wesentliche Umdeutung vorweggenommen werden: es muß das „Wort” als „Autorität” aufgenommen und „gehorsam” „gehört” werden. Damit erst ist der Vorgang — zwar formal gesehen, aber doch — als ein religiös intensiver charakterisiert und sinnvoll geworden. Auf dem derart intensivierten Verständnis des logisch-formalen Vorganges des Redens und Hörens bauen Barth und Brunner ihre eigene Position auf. Sie vollziehen durch diese Umdeutung ihrer Grundbegriffe unausgesprochen eine entscheidende Auswahl, scheiden alle Wort-Gehalte, für die diese religiös-intensive Auffassung nicht in Frage kommt, aus und präparieren sich das formale Schema für den Inhalt, den sie im Auge haben. Um die Zuordnung dieses Schemas auf den ihm zugedachten Inhalt zu verfestigen, wird dem Inhalt, der für sie nicht in Frage kommt, das Prädikat „Geist” abgesprochen. Nur das gehorsam gehörte Wort ist Geist. Es entsteht so die handliche Zirkel-Formulierung: nur dieses „Wort” ist Quelle, „Ursprung” des Geistes — nur der aus diesem „Wort” quellende Inhalt ist „Geist”. „Geist ist nur, wo Wort ist. Zum Geistverständnis durchdringen kann nur, wer einsieht, daß das Wort das erste und der Geist das zweite ist. Das Wort schafft Geist, nicht aber der Geist das Wort. Ds letztere ist die Behauptung des Naturalismus und der mit ihm verwandten romantischen Mystik” 46). Wenn Brunner fortfährt: „das erstere ist das Zeugnis der Bibel. „Im Anfang |28| war das Wort und Gott (von Art) war das Wort”, so illustriert er damit, wie leicht nun eine weitere Identifikation vollzogen wird: die des Wortes überhaupt mit dem „Wort Gottes”. Das zunächst sprachlich-logisch aufgefaßte, alsdann geistig-autoritativ erfüllte Schema des Redens und Hörens, des „Wortes” und der „Antwort”, wird so zur speziell theologischen Kategorie und in dieser verschiedenartig nuancierten und bestimmten Prägung erst die Grundlage der Theologie Barths und seiner Freunde. Das „Hören” des Gesprochenen, das „Aufnehmen”, nun „Annehmen” des „Anspruches” (auch dieses Wort in seinem doppeldeutigen Sinn verstanden) wird nun aus der wahrhft „geistigen” Haltung die allein wahrhaft fromme Haltung. Dadurch ist die grundlegende Bestimmung dieser „Theologie des Wortes” erreicht: das Annehmen des Wortes ist Glaube. „Glaube heißt, hören, was Gott sagt, . . das „ledige Gemüt” (beachte die Hervorhebung des Formalen und Rezeptiven dieses „Vorganges”) . . bezeichnet das Fußfassen des Menschen im Transsubjektiven, im Jenseits.” „Ueber uns wird ein Spruch hörbar, eine jenseitige, transzendente, von unserer „Subjektivität” gänzlich unabhängige, de excelsis heuntertönende Stimme . . . nicht eine Gegebenheit der Erfahrung, sondern eine Voraussetzung für alles Erkennen . . . das Inempfangnehmen der göttlichen Bürgerurkunde, — das ist der Glaube” 47). Glaube ist die „Annahme des Anspruchs”. „Jesus teilt mit, was nur er wissen kann und was zu wissen und zu glauben die einzige Bedingung und Möglichkeit der Rettung ist” . . 48). Ebenso ist für Barth Glaube „Annahme des unglaublichen Zeugnisses” 49), und Gogarten steht auf derselben Linie: „Das heißt glauben: für wahr — ja, fürwahr! — halten, was doch nicht wahr sein kann . . . das heißt glauben: für möglich, nein für wirklich halten, was doch unmöglich ist” 50). Dieses Annehmen des paradoxen, unglaublichen Zeugnisses wird von dem verstehenden Ergreifen einer Botschaft auf das schärfste unterschieden. Die Offenbarung Gottes muß sich ihrem Wesen nach „jedem Versuch widersetzen, sie ins Menschliche zu |29| übersetzen, sie zu verstehen (was für G. dasselbe ist) und das kann ja nur heißen, wie man es auch anstellen mag, sie aus der Uebersetzung in menschliche Möglichkeiten heraus zu verstehen” (S. 19).

Mit dieser Entwicklung der Bedeutung des formalen Schemas vom Reden und Hören für diese Theologie sind wir von selbst auf die zweite Frage gestoßen, die nach dem Inhalt des „Wortes”. Wie wird er gewonnen, ergriffen — oder vielmehr, da er ja auf keine Weise „gegeben” ist und nicht ergriffen, „apperzipiert” werden kann, da ja die formale, aktuelle Haltung des Hörens alles ist, — wie kommt ein Inhalt überhaupt zustande? Woher kommt dem Spruch der Sinn? Mit dieser Frage stehen wir vor der Grenze, die nicht nur religiös die „alles in Frage stellende Frage”, sondern theologisch das letzte Wort dieser „Theologie der Krisis und des Wortes” überhaupt ist. Die religiöse Frage nach Gott ist diese Frage nur dann, wenn die radikale Infragestellung der ganze Inhalt der Offenbarung Gottes ist. Denn ein anderer Inhalt wird hier nicht „gehört”, wenn Glaube wirklich nichts anderes ist als „fragendste, unsicherste, gebrochenste, zweifendste Form des Wissens” oder vielmehr des „Nicht-wissens” 51). Die Theologie aber hat eine erkenntniskritische Methode, mit deren Hilfe sie sich über diese „letzte erlaubte Frage”, — die in Wirklichkeit auch ihre erste ist —, hinwegzuschwingen vermag in der spekulativen Dialektik. In der unterschiedlichsten Weise wird dieses gefährliche, weil verführerische Instrument von den Vertretern der „dialektischen Theologie” gehandhabt. Das religiöse Wahrheitsmoment der dialektischen Methode wirkt sich als ein rein formales aus und ist aus der richtigen Erkenntnis geboren, daß keine religiöse Aussage als Zeugnis von Gott und Gottes Wirklichkeit diesen ihren „Gegenstand” irgendwie ganz und rein zu umfassen und auszudrücken vermag. Wahr ist eine religiöse Aussage stets nur als Zeugnis von dem Gott, der uns hat, und den nicht wir haben, dessen Offenbarungen deshalb nicht in die Sicherheit menschlicher Logik einzufangen sind. Ihren Wert also hat die dialektische Aussage in ihrem Charakter als religiöses Zeugnis auf Grund einer |30| religiösen Erfahrung 52). Diesen legitimen Sinn hält Barth in vielen dialektischen Interpretationen in seinen Kommentaren fest, nämlich überall da, wo in ihrem rein formalen Charakter das spezifisch religiöse Moment einer inhaltlich gegebenen Aussage aufleuchtet. So muß die dialektische Bestimmtheit des religiösen Zeugnisses als ein überaus wertvolles Ausdrucksmittel der „religiösen Logik” angesprochen werden, in dem sich auf eine dem modernen Bewußtsein besonders entsprechende Weise das „Numinosum” „schematisiert”. Wie bedeutsam und unentbehrlich die so verstandene dialektisch-religiöse Ausdrucksform von altersher bis heute für alle religiöse Verkündigung und Predigt gewesen ist, bedarf keines weiteren Wortes.

Entscheidend anders aber liegt die Sache da, wo mit Hilfe einer antithetisch-spekulativen Dialektik Inhalte erzeugt werden. Theologische Entwicklung eines Gedankeninhaltes oder gar systematische Durchführung und Ausgestaltung eines religiösen Grundmotivs zu einem theologischen System ist etwas ganz anderes als Interpretation einer textlichen Aussage oder Zeugnis von einer religiösen Erfahrung. Den Dienst aber, der theologischen systematischen Entwicklung über den unüberwindlichen Abgrund zwiscen dem Relativen und Absoluten hinüberzuhelfen und den „Hohlraum” eines Hörens, dem kein Verstehen gegeben ist, mit Gedanken zu füllen, soll die dialektische Methode dieser Theologie leisten. Es soll nun hier gewiß nicht geleugnet werden, daß auch in solcher deshalb spekulativ zu nennenden Dialektik das religiöse Motiv wirksam sein kann und durch sie zu wirken vermag. So ist es bei Barth und Gogarten oft, bei Brunner selten der Fall. Wo es dazu kommt, wirkt es nicht durch die spekulativ gewonnenen Erkenntnisse, sondern trotz solcher Spekulation, so daß das Phänomen einer religiösen „Wirkung” bei gänzlicher Ratlosigkeit den spekulativen Gängen und Ergebnissen gegenüber entsteht, wie man es häufig beobachten kann. Die hier entscheidende Frage aber ist die, woher die spekulative dialektische Methode ihren Gehalt, die von ihr zu entwickelnden Gedanken, nimmt und welche diese Gedanken sind. Da ist es nun bei fast allein freien theologischen, d.h. nicht nur textlich interpretierenden Ausführungen mit Händen zu greifen, wie, |31| bei Gogarten meist nach einer sehr langen radikalkritischen Exposition gegen Ende des betreffenden Aufsatzes, die dialektische Erörterung plötzlich das christologische Dogma der Gott-Menschheit Christi aufgreift und spekulativ mit größerer oder geringerer Behutsamkeit entwickelt 53). „Wir können nicht von Gott reden. Denn von Gott reden würde, wenn es ernst gelten soll, heißen, auf Grund der Offenbarung und des Glaubens reden. Von Gott reden würde heißen Gottes Wort reden, das Wort, das nur von ihm kommen kann, daß Gott Mensch wird. Diese vier Worte können wir sagen, aber wir haben damit noch nicht Gottes Wort gesagt, in dem das Wahrheit ist. Das zu sagen, daß Gott Mensch wird, aber als Gottes Wort, wie es eben wirklich Gottes Wort ist, das wäre unsere theologische Aufgabe . . Das allein, aber wohlgemerkt: als Gottes Wort, ist die Antwort, die echte Transzendenz besitzt . . . diese Antwort sollten wir geben und eben diese Antwort können wir nicht geben” 54). Es ist freilich auf keine Weise einzusehen, wie von der Voraussetzung des hier geforderten „Glaubens” und unter Anerkennung der hier an die „Theologie” gestellten Ansprüche vor dem absoluten Riß überhaupt etwas gesagt werden kann über das radikalkritische „Nein” hinaus. Noch viel weniger führt von hier aus ein irgendwie sinnvoller Zugang zu dem Evangelium von der Gnade Gottes in Christo Jesu. Und zwar eben deshalb nicht, weil geflissentlich alle Brücken abgebrochen sind. So bleibt in der Tat, wenn aus dem radikalen Bußruf eine christliche Theologie werden soll, nichts übrig, als ihren Inhalt dialektisch zu konstruieren, wie es Gogarten in seinem Aufsatz über „Offenbarung und Zeit” paradigmatisch vorführt 55). Er knüpft an das Wort W. Herrmanns an, nicht das Ewige rette uns, sondern der Gott, der des Zeitlichen und Ewigen mächtig sei. Im folgenden entwickelt er nun aber nicht den Gegensatz: Gott und das Ewige, auf den es Herrmann ankommt, der von da aus die Wendung von aller rationalen metaphysischen Religionsbegründung zum persönlichen geschichtlichen Erleben vollzieht, sondern er entwickelt den Gegensatz zwischen Zeit und |32| Ewigkeit. „Die Welt ist der Zusammenstoß von Zeitlichem und Ewigem, der unaufhebbare Gegensatz von Zeit und Ewigkeit. Sie ist beides ganz — oder weder das eine noch das andere, weder Zeit noch Ewigkeit, sondern der tobende Kampf, in dem es um das Ganze geht . . . wir selbst sind dieser Kampf. Dies, daß Zeit und Ewigkeit den Entscheidungskampf miteinander kämpfen, dessen Ausgang . . . unsere Aufhebung bedeutet, diese Tatsache sind wir, diese drohende Vernichtung ist unsere Substanz, unser Wesen . . . (dieser Gegensatz) ist, solange wir sind, er ist also für uns unaufhebbar. Seine Aufhebung wäre auch unsere Aufhebung, oder was dasselbe bedeutet, unsere fundamentale Neukonstituierung; nicht nur teilweise Veränderung; auch nicht ein Neuwerden von innen her, etwa aus der Selle oder aus der Gesinnung heraus, sondern wie es in der Bibel nicht ohne Grund heißt, eine Wiedergeburt des Menschen. . . . Der Gegensatz . . ist durchaus ein Gegensatz in der Zeit, er ist die mit sich selbst in Widerspruch geratene Zeit. Aber nicht sie selbst stellt sich in Frage, sondern sie wird von einem anderen in Frage gestellt, das deshalb, weil es die Frage ist, auch allein die Antwort, die Erfüllung sein kann. Denn nur die Antwort kann in Frage stellen und nur die Erfüllung kann aufheben. Ist die Antwort die Antwort auf die Frage der Zeit, so kann sie nur in der Zeit gegeben werden. Ist sie die Antwort auf die Frage der Zeit, so ist sie die Aufhebung der Zeit, denn dann ist sie die Ewigkeit.” In dem Gegensatz zwischen Zeit und Ewigkeit kommt offenkundig das religiöse Grundmotiv des absoluten Gegensatzes zum Ausdruck; jedoch wechselt die Wertung der „Ewigkeit” im Verlauf der dialektischen Entwicklung in charakteristischer Weise. Sie ist bald ein Moment des existenziellen Weltkampfes selber, bald ist sie das „vom Jenseits her” hereinbrechende Gericht. Dieses Schwanken, in dem sich die Diskrepanz zwischen dem metaphysisch-spekulativen und der religiös-dialektischen Tendenz ausspricht, bleibt auch im weiteren, wo nach der Entwicklung des spekulativen Schemas bis zu dem absoluten Dilemma und nach einer spekulativen Vorbereitung des Weges, auf dem allein seine Auflösung konstruktiv zu erreichen ist, nunmehr die religiöse Ausdeutung geboten wird. „Die Ewigkeit steht drohend und schreckend über der Zeit als ihr Gericht. Gott ist die furchtbare |33| Klammer, die Zeit und Ewigkeit auseinander schließt. Hier erkennen wir vor Gott, was es bedeutet, Mensch zu sein. Es bedeutet: nicht wie Gott sein und doch sein müssen wie Gott. Das heißt: Krank sein an Gott, aber nicht sterben können an ihm und nicht heil werden können aus Kraft des eigenen Organismus . . . Allerdings bewegen wir uns damit, daß wir sagen: von Gott allein kann die Heilung kommen, in einem unnützen und heillosen Zirkel. Denn von Gott kann uns immer nur die Forderung kommen, die unerfüllbare, und darum das Gericht, die Krankheit, . . . wenn nicht an dieser Stelle, wo wir nichts erkennen können als immer nur wieder die Unheilbarkeit unserer Krankheit, eine unerhörte Wandlung sich ereignet. Diese Wandlung, daß der Gott, von dem die Heilung kommt, von dem die Heilung aber nur kommen kann, wenn er Gott ist, kein Gott mehr ist. Und das heißt: wenn Gott — aber eben Gott — Mensch — man wird auch da getrost einen Augenblick einhalten können, um sich deutlich zu machen, was das heißt: Mensch — also wenn Gott Mensch wird.” (Hier ist die Parallele Gott-Mensch, Ewigkeit-Zeit wieder hergestellt). „Wir wollen versuchen, uns das klar zu machen, was das heißt: Gott wird Mensch, Ewigkeit wird Zeit. Im Augenblick, in ihrer Gegenwärtigkeit ist die Zeit in Frage gestellt, ist sie beständig von ihrer Aufhebung bedroht. Also daß Ewigkeit Zeit wird, geschieht im Augenblick oder nein: geschieht in einem bestimmten Augenblick. Denn nur ein bestimmter, vereinzelter Augenblick ist Zeit in ihrer ganzen Fraglichkeit. Also Gott wird Mensch, das heißt: er wird ein Mensch. Denn da erst wird er in Wahrheit Mensch. Darum wird er der eine, der einzelne, der zufällige Mensch, der unter dem Kaiser Augustus in Palästina als Jude geboren wurde.”

Es ist nötig, diese spekulative Deduktion des christologischen Dogmas sich ausführlich vor Augen zu halten, um in aller Deutlichkeit zu erkennen, daß diese Dialektik mit dem oben gekennzeichneten dialektischen Formelement religiösen Zeugnisses nur den Namen gemein hat, daß aber anderseits nur mit Hilfe dieser spekulativen Dialektik über die absolute Grenze hinweg der Aufbau einer christlichen Dogmatik zustande kommt. Sie deduziert und konstruiert mit „also”, „denn” und „darum”, was der Glaube als „Hohlraum” nicht zu erfassen vermag. Noch aber hat sie die „Geschichte” nicht ganz erreicht. |34| Noch ist die „Notwendigkeit” „zeitlicher” „Offenbarung” — obgleich von Offenbarung füglich von diesen Voraussetzungen nicht mehr geredet werden kann —, bewiesen, aber nicht ihre Tatsächlichkeit aufgezeigt. Hier bedarf es eines letzten Sprungs, den Gogarten an anderer Stelle also vollzieht: „Fragt man sich, wo dieses Geschehen (daß Gott Mensch wird) sich ereignet, so kann ich nur antworten: überall. (!?) Fragt man mich, wo dieses Geschehen sichtbar, offenbar wird, so kann ich selbt nur fragend auf die Stelle in der Geschichte hinweisen, die man Jesus von Nazareth nennt.” So findet also auch er, um seiner spekulativen Konstruktion den Abschluß zu geben, keinen anderen Ausweg, als das ganz und gar Unanschauliche, Paradoxe, Ungeschichtliche in einer hier durchaus undialektischen Weise „sichtbar”, „offenbar” werden zu lassen und auf eine „Stelle in der Geschichte” zu verweisen, wo das „geschehen” ist. Nur freilich ist kein „Organ”, kein Auge oder Ohr da, das „Sichtbare” zu sehen, das Wort zu vernehmen. Die spekulative Dialektik vermag das, was das Neue Testament und die Reformatoren „Glauben” nennen, nicht zu ersetzen. Wenn Gogarten behauptet, daß seine „Theologie durchweg dialektisch bestimmt sei”, „das heißt, daß keine Aussage in ihr ohne ihre Aufhebung, ihren Gegensatz genommen sein will”, so ist dieses echte dialektische Prinzip in diesen spekulativen dialektischen Deduktionen schlechterdings nicht wirksam. Hier wird nicht auf Grund einer religiösen Erfahrung in dialektischer Zuspitzung Zeugnis von ihrem „radikalkritischen” Charakter abgelegt, sondern es wird auf dem Wege begrifflich folgernder Konstruktion „Theologie”, „Dogmatik” deduziert. Die Setzung und Aufhebung des ersten Gliedes dieser Schlußketten macht das Ganze der folgenden Konstruktion sinn- und gegenstandslos. Eben dasselbe aber liegt in den theologischen Ansätze vor, die von der Basis einer textlich gegebenen neutestamentlichen Aussage von Barth unter dem starken Motiv der reformierten Lehre von dem schlechthin verborgenen, unbekannten Gott und der absoluten Distanz dialektisch aufgebaut werden. Brunners Versuch einer erkenntniskritischen, religionsphilosophischen Untermauerung der radikalkritischen Position vollends läßt die Möglichkeit, sie religiös-dialektisch zu verstehen, gar nicht aufkommen. |35|

So stellt sich das trotz aller Verschiedenheiten und Spannungen von starken einheitlichen Voraussetzungen und Motiven bestimmte Phänomen der radikalkritischen Theologie von allen Gesichtspunkten aus als ein Mischgebilde dar, in dem sich ein tiefes, echtes religiöses Grundgefühl mit sprachlich-logischen, modernen kultur- und religionskritischen Prinzipien vereinigt hat. Die religiöse Kernbotschaft von der „radikalen Scheidung” zwischen Gott und Welt, Ewigkeit und Zeit, Jenseits und Diesseits wird mit vollstem Recht von Gogarten selbst auf eine „religiöse Betrachtungsweise”, eine religiöse Grundhaltung ganz allgemeiner Natur, ein religiöses Grundmotiv oder „Grundgefühl” (Gogarten!) zurückgeführt. In dieser „religiösen Betrachtungsweise” liegt der Sinn und Inhalt der Kernbotschaft bereits beschlossen. „Die religiöse Betrachtung hat nur Sinn, wenn in ihr nichts bleibt als Gott, wenn alles Menschliche schwindet, wenn sie die Grenzen eines anderen, grundanderen Reiches überschreitet, wenn des Menschen Handeln aufhört und Gottes Tun beginnt.” 56) So ist es der Sinn der Religion — nicht als menschlicher Bestrebung, sondern als göttlicher Veranstaltung —, die „Erkenntnis des totalen Risses zwischen Gott und Mensch” unter der Voraussetzung der ursprünglichen „totalen Einheit” zwischen beiden und mit der Absicht der „totalen Heilung dieses Risses durch die Religion” zu vermitteln 57). In aller wünschenswerten Deutlichkeit wird hier der allgemein-religiöse Charakter des treibenden religiösen Grundgefühles der dialektischen Theologie aufgezeigt. Wenn nun sicherlich der Gegenwart mit der eindringlichen, charaktervollen Verkündigung dieses Grundmotivs aller echten Frömmigkeit ein nicht zu überschätzender Dienst geleistet und eine Botschaft in neuer Form verkündigt wird, die zu „hören” uns im höchsten Grade nötig und heilsam ist, so erhellt auf der anderen Seite, daß der von den Vertretern der dialektischen Theologie unternommene Versuch, diese Botschaft in der Gestalt einer derart ausgebauten „radikal-kritischen”, „dialektischen” Theologie darzubieten, in unauflösliche Verwicklungen führt. Es scheint, daß dieses Unternehmen nicht nur die theologisch-wissenschaftliche Arbeit verhängnisvoll verwirrt, sondern |36| dadurch auch der religiösen Botschaft an unsere Zeit und religiöse Lage nicht der beabsichtigte Dienst geleistet wird. Als eine heilsame Konsequenz immerhin auch für die Theologie darf der Umstand gelten, daß ihr durch den radikalkritischen Eingriff die sie längst beschäftigenden Zentralprobleme, insbesondere die Begriffe des Glaubens und der Offenbarung und die Frage nach der Stellung zur Schrift, in aktuellster Beleuchtung neu aufgegeben worden sind. Außer ihnen wird vor allem die Frage nachzuprüfen sein, ob in jenem „religiösen Grundgefühl” tatsächlich sich der zentrale und volle Gehalt der Botschaft des Evangeliums spiegelt, wie es die gemeinsame Voraussetzung und Behauptung der radikalkritischen Theologie ist, eine Frage, deren Untersuchung allerdings einen andersartigen Ausgangspunkt erfordert, als unsere Fragestellung ihn bot.




1. Vgl. die Auseinandersetzung Stephan-Brunner in H. 3 u. 4 des vorigen Jahrganges, die mir erst bei der Korrektur vorgelegen hat.

2. Vgl. dazu auch Gg. Wobbermins Methode des „religionspsychologischen Zirkels”. Systematische Theologie Bd. II, S. 43 u.ö.

3. Gogarten, Christl. Welt 1925, Nr. 3/4, Sp. 38; überhaupt vgl. hierzu |5| und zum ff. die Auseinandersetzung Harnack-Barth, in Christl. Welt, 1923, Nr. 1/2, 5/6, 9/10, 16/17 und Gogarten, Theologie und Wissenschaft, Christl. Welt 1924, Nr. 3/4 und 5/6. Auch Brunner, Philosophie und Offenbarung, 1925, S. 6.

4. Vgl. Vorrede zu Gogarten, Religiöse Entscheidung 1921, S. 4.

5. Vgl. u.a. Barth, Römerbrief 1922II, VII.

6. Nebenher geht eine erbaulich-religiöse Interpretation ihres Standpunktes, wie der von K. Barth und Thurneysen herg. Predigtband: Komm, Schöpfer-Geist! zeigt.

7. Gogarten, Religiöse Entscheidung 1921, S. 9. 23. 77.

8. Barth, Römerbrief S. 27.

9. Gogarten, Religiöse Entscheidung S. 27. 39.

10. K. Barth, Der Christ in der Gesellschaft 1920, S. 47.

11. Gogarten, Glaube und Offenbarung 1923, S. 24.

12. Gogarten, Religiöse Entscheigung S. 38. 49. 82.

13. K. Barth, Das Wort Gottes als die Aufgabe der Theologie. Christl. Welt 1922, H. 46/7.

14. K. Barth, Christliche Welt 1923, Nr. 5/6, Sp. 89.

15. Dieser charakteristische Vorgang ist z.B. in der Auseinandersetzung Harnack-Barth (s. oben) und ebenso in der zwischen Herrigel und Gogarten (Zwischen den Zeiten, 1924, H. VII und 1925, H. V) zu beobachten.

16. Vgl. E. Brunner: Erlebnis, Erkenntnis und Glaube. Tübingen 1921 und 1923. Die Mystik und das Wort (Schleiermacherkritik). Tübingen 1924. Dazu K. Barths recht kritische Besprechung in „Zwischen den Zeiten”, 1924, H. VIII, in der jedoch auch die grundsätzliche Uebereinstimmung zu charakteristischem Ausdruck kommt (S. 51, 54) und vor allem H. Stephans Gegenkritik, s.o.

17. Lehrreich in dieser Beziehung ist die Veränderung der gefühlsmäßigen Einstellung und daher auch des Tones der „wissenschaftlichen Theologie” gegenüber in Barths Vorrede zu seinem Kommentar über I. Kor. 15: Die Auferstehung der Toten, im Gegensatz zu der Vorrede zum Römerbriefkommentar; ähnliches ist bei Gogarten in seinem Aufsatz „Historismus” im Unterschied zu früheren Auseinandersetzungen mit Troeltsch zu beobachten.

18. K. Barth: Von der Paradoxie des „Positiven Paradoxes”, Theol. Blätter 1923, Nr. 12 — als Antwort auf die höchst lehrreichen Bedenken P. Tillichs: Kritisches und positives Paradox; ebenda Nr. 11 — vgl. auch K. Barth: Vorreden zum Römerbrief und der „Auferstehung der Toten” 1924.

19. Gogarten, Religiöse Entscheidung S. 23.

20. S.o. S. 8: „Draußenbleiben”.

21. Brunner, Philosophie und Offenbarung, S. 19.

22. Hierzu u.a. P. Althaus, Theologie u. Geschichte, in der Zeitschr. f. system. Theologie, 1923/4. H. 4; und Gg. Wünsch, Ethik des Zorns und Ethik der Gnade, ZThK 1923. H. 5 u. 6.

23. Zwischen den Zeiten 1924, H. VIII, S. 54.

24. Brunner, Erlebnis, Erkenntnis und Glaube 1923, S. 3.

25. Vgl. auch Stephan, H. 3 S. 166 zu dieser neukantianisch beeinflußten „Sprachphilosophie”.

26. Sigwart, Logik I, S. 50 ff.

27. Brunner, Die Mystik und das Wort S. 30.

28. K. Barth, Biblische Fragen, Einsichten und Ausblicke, 1920, S. 9 ff.

29. Brunner, Die Mystik S. 30. 163. 309.

30. K. Barth, Biblische Fragen, Einsichten und Ausblicke 1920, S. 7.

31. Brunner, Die Mystik S. 182. 219-221.

32. Fr. Gogarten, Von Glauben und Offenbarung 1924, S. 20 ff.

33. Brunner, Die Mystik S. 161. 380

34. Vgl. dazu die Auseinandersetzung zwischen K. Barth und P. Jaeger in Christl. Welt 1924, Nr. 29/30 und 31/32.

35. Gogarten, Zwischen den Zeiten VII, S. 14. 15.

36. Herrigel, Zwischen den Zeiten VII, 3 ff. und 1925, I, S. 57 ff.

37. K. Barth, Römerbrief S. 27. 114.

38. Gogarten, Von Glauben und Offenbarung S. 73.

39. Brunner, Die Mystik S. 172 und 211 ff. 216 f., 143 u.a.m. 191 und 269.

40. Barth, Vorträge 1924, S. 20; Gogarten, Von Glauben . . S. 77.

41. Gogarten, Religiöse Entscheidung S. 39.

42. Gogarten, Religiöse Entscheidung S. 9, 10.

43. Barth, Bibl. Fragen . . S. 14. 27; vgl. Römerbrief, S. 114 u.a.

44. Hier kann das gesamte Schrifttum Barths, Gogartens u.a., auch | der Vortrag von R. Bultmann über „die liberale Theologie und die jüngste theologische Bewegung”, Theol. Blätter 1924, Nr. 4 zur Veranschaulichung dienen.

45. Brunner, Die Mystik 89 ff. Erlebnis . . S. 96 ff.

46. Brunner, Die Mystik S. 89/90.

47. Brunner, Erlebnis . . S. 96, 98.

48. Brunner, Die Mystik . . S. 224 f.

49. Barth, Christliche Welt 1923, Nr. 16/17, Sp. 248.

50. Gogarten, Von Glauben . . S. 39.

51. Die von Barth in seinem Vortrag über „das Wort Gottes” (Christl. Welt 1922, H. 46/47) angeführten Beispiele neutest. religiös-dialektischer Paradoxien z.B. tragen den Charakter echter religiöser Dialektik.

52. S. Anm. S. 29.

53. Gogarten, Religiöse Entscheidung S. 72; Von Glauben . . S. 18. 39.

54. Barth, Christl. Welt 1922, Nr. 46, Sp. 865 f. auch in: Vorträge.

55. Gogarten, Von Glauben . . S. 20 ff. (auch ZTHK 1922, S. 347 ff.).

56. Gogarten, Religiöse Entscheidung S. 35.

57. Gogarten, Von Glauben . . S. 6 f.




a. Pfarrer Lic. Dr. Ernst Neubauer in Schweinsberg bei Kirchhain i.H.







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