Theodorus Lambertus Haitjema (1888-1972)

Abraham Kuyper und die Theologie des holländischen Neucalvinismus

Vortrag, gehalten am 9. April 1931 auf dem Ferienkurse an der Universität Bonn

Zwischen den Zeiten

9e jaargang, onder redactie van Georg Merz e.a.
München (Chr. Kaiser) 1931, 4,331-354

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Daß dieses Thema, welches scheinbar in den Grenzen meiner kleinen Nation bleibt, auch Ihr Interesse hat, glaube ich im Voraus annehmen zu dürfen. Schon vor mehreren Jahren hat der gewiß auch Ihnen wohl bekannte Dr. Kolfhaus mit Begeisterung über Dr. Kuyper geschrieben und ihn als einen Glaubenshelden gekennzeichnet, dessen Ideale auch für das heutige Deutschland von der größten Bedeutung seien zur Regeneration einer entchristlichten Kultur. Eine Neubelebung des alten reformatorischen Bekenntnisses, aber im Gewande der Begriffsformen unserer modernen Kultur, tue not. Auch auf die Bedeutung Kuyper als Politiker hat Kolfhaus mehrmals hingewiesen, und noch vor kurzem hat er eine Lösung des Schulproblems nach dem Muster der holländischen freien christlichen Schulen empfohlen, insofern in diesem Unterrichtssystem alle Verantwortlichkeit für die Richtung der Erziehung der Kinder auf Vereinigungen von gleichgesinnten Eltern gelegt wird, und Staat und Kirche beiden normaliter keine leitende Stellung in den Schulfragen als Erziehungsfragen zuerkannt wird. |332|

In den letzten Jahren wächst ohne Zweifel der Einfluß des holländischen Neucalvinismus im Auslande. Ernst Troeltsch war seinerzeit für die Bedeutung dieser Variation des Calvinismus nicht blind, als er die Soziallehren schrieb. In der heutigen Schweiz ist von Kuypers Neucalvinismus unter den Jung-Reformierten sehr viel die Rede. Die kirchenrechtlichen Grundgedanken dieser Strömung z.B. sind durchaus an Kuyper und seinen Gesinnungsgenossen orientiert. Und um nur noch dieses eine zu erwähnen, weist auch der Calvinismus in Ungarn in den letzten Jahren nicht immer klaren den Einfluß der Kuyperschen Gedankenwelt auf? Prof. Sebestyén aus Budapest muß hier genannt werden als der tüchtige Kämpfer für eine Schwenkung des reformierten Protestantismus in seiner Heimat zur neucalvinistischen Richtung. Er ist durchaus beherrscht von den Kuyperschen Schriften.

Diese Fortwirkung Kuyperscher Gedanken jenseits der Grenzen Hollands braucht uns übrigens nicht zu wundern. Wir dürfen nicht vergessen, daß Kuypers Ideale von Anfang an international eingestellt waren. Dr. A. Kuyper war ein richtiger Napoleon im Reiche des Geistes, ein Imperialist in seiner überzeugten Gebundenheit an den Calvinismus. Er meinte wirklich, daß es seine Aufgabe sei, für einen gewaltigen Gegenstrom gegen den Humanismus, bzw. gegen die führende Stellung des deutschen Idealismus, die Bahn frei zu machen in ganz Westeuropa. Er wollte gegenüber Fichte und Hegel ein Gegenstück liefern an „christlicher Philosophie”, eine Wissenschaftslehre und einen Entwurf einer Enzyklopädie der Wissenschaften, deren allseitige Begründung und kulturelle Ausbreitung in Holland und in ganz Westeuropa er von seiner Stiftung, der Freien Universität in Amsterdam (seit 1880), erhoffte. Kuyper glaubte in den letzen Dezennien des 19. Jahrhunderts die Zeit für den Calvinismus reif, um in moderner Gestalt seinen Weltberuf zur kulturellen Hegemonie durchzusetzen. Nicht nur durch seine Reiselust und die vielen Beziehungen zu beinahe alle Ländern Europas zeigte er den Expansionsdrang eines modernen Calvinisten, sondern auch philosophisch und theologisch wollte er so gerne Beziehungen zur europäischen intellektuellen Welt lebendig erhalten, und diese welt-offene Haltung hat er auch bei seinen Schülern immer begünstigt.

Bevor ich nun auf Dr. A. Kuypers kulturphilosophisches Hauptanliegen weiter eingehe, schicke ich einige einleitende Bemerkungen voraus über Kuypers Lebensgang und über das Problem seiner |333| Bekehrung. Meine kurzen Ausführungen über diesen letzten Punkt werden mir zugleich die Gelegenheit geben, über den Hintergrund des holländischen Kulturlebens, auf welchem Kuyper erscheint, einiges anzudeuten.

Kuyper wurde 1837 als Sohn eines reformierten Pfarrers der holländischen Volkskirche zu Maassluis, in der Nähe von Rotterdam, geboren. Der Hausarzt der Familie, des Ds. Kuyper in Maassluis, prophezeite schon, als er einmal den auffallend großen Kopf des jungen Knaben Abraham zwischen seine Hände nahm, daß eine große Zukunft diesem Sohne mit so gewaltigem Gehirn bestimmt sei. Nach dem vorbereitenden Unterricht wurde Kuyper im Jahre 1855 als Student der literarischen und der theologischen Fakultät in Leiden immatrikuliert. Außergewöhnliche journalistische Begabung hatte er bereits als Gymnasiast gezeigt und als Student wurde er anfangs am stärksten von den literarischen Studien unter Prof. de Vries angezogen. Bald kam er dennoch auch unter den Einfluß von Prof. Scholtens Vorlesungen über philosophische und systematische Theologie und wurde von den radikal-modernen Lösungen der Spannung zwischen Wissenschaft und Religion fortgerissen. Scholtens Determinismus und monistischer Naturalismus zogen ihn an durch ihren deutsch-idealistischen Einschlag. Dazu kam die deutliche Tendenz sienes Lehrers, auch bei dem klassischen Calvinismus anzuknüpfen, der Gottes Souveränität so primär schätzt. Dem orthodoxen Glauben war der Student Kuyper völlig entfremdet. In einer akademischen Vorlesung applaudierte er begeistert, als die faktische Auferstehung Jesu mit scharfsinnigen Argumenten geleugnet wurde. Während des letzten Teiles seiner Studentenzeit beschäftigte er sich mit selbständigen Calvinstudien, als er die Beantwortung einer Preisfrage der theologischen Fakultät in Groningen über das Verhältnis des Kirchenbegriffes à Lascos und Calvins bearbeitete. Diese Beantwortung hat ihm auch im Jahre 1862 noch als Dissertation 1) zur Erwerbung des theologischen Doktorgrades gedient. 1863 trat er in das Pfarramt ein in der kleinen ländlichen Gemeinde Beesd. Nach der ersten persönlich-religiösen Krisis in seinem Leben, welche etwa 1860 unter der Lektüre eines englischen Romanes „The Heir of Redcliffe” stattfand, besaß er ohne Zweifel nicht mehr die ungebrochene Selbstgewißheit eines Schwärmers für die idealistische |334| Weltanschauung, aber überzeugter Christ war er damit doch noch nicht geworden. Der Voluntarismus wurde in seinem religiösen Denken seit 1860 stärker und in den Predigten seiner ersten Pfarrerperiode scheint das ethisch-vorbildliche an der Heilandsgestalt ihm am meisten bedeutet zu haben.

Als er 1867 nach Utrecht zog als Pfarrer einer sehr konservativen Stadtgemeinde, war er mittlerweile schon durch eine zweite religiöse Krisis hindurchgegangen, welche ihm zum bewußten Bekenntnis des paulinisch-reformatorischen Evangeliums gebracht hatte. Von den pietistischen „Konventikel”-Christen, besonders von einer Frau Pietje Baltus, hat er es sich sagen lassen, daß Gott nur von ihm groß gemacht werden könne, wenn er eine radikale Umstellung in seinen Predigten vollzöge. Die Botschaft der souveränen, freien Gnade Gottes im ganzen Erlösungswerk haben diese seine unbarmherzigen Kritiker ihm so lange vorgehalten, bis er dessen ganz gewiß war, daß ihn nicht mehr diese Botschaft selbst, sonder nur die kulturfremde Einkleidung dieser unvergänglichen Heilsbotschaft in jenen Pietisten störte. In seiner Abschiedspredigt zu Beesd bittet er um Verzeihung für die vielen gefährlichen halben Wahrheiten, welche er in den ersten Jahren seines Pfarramtes gepredigt habe. Zu gleicher Zeit geht, wie aus seiner Antrittsrede in Utrecht über Joh. 1, 14 deutlich wird, ihm sein Beruf schon auf, in der Zukunft daran mitarbeiten zu dürfen, daß die alte Wahrheit in einer neuen Form der modernen Kulturwelt dargeboten werde. Die Grundlinien der calvinischen Weltanschauung sollen zu dem modern-kulturellen Bewußtsein in Beziehung gesetzt werden. Wie verrät aber schon die Ausarbeitung seines ersten Predigtthemas in Utrecht, daß Kuyper wie Origenes in alter Zeit aus dem Ägypten der weltlichen intellektuellen Kultur viel mehr mitgenommen hatte, als er im Dienste des lebendigen Gottes wirklich gebrauchen konnte. Die Fleischwerdung des Wortes, und, parallel damit, die Erscheinungsform des Christentums als instituierte Kirche, ist für ihn nur die Instrumentalursache, durch welche das von Gott (Gottes Geist) gewirkte neue Leben ins Bewußtsein erhoben wird. Dieses neue Leben als ein Seiendes geht deshalb der Fleischwerdung ordine voran. Das ist doch wohl ein merkwürdiges Symptom von Kuypers materieller Abhängigkeit von einer philosophischen Zweiteilung Sein-Bewußtsein, Leben-Wissen vom Leben; christlich ausgedrückt: unvermittelt durch den Geist gewirkte Wiedergeburt als das Erste und |335| Bekehrung und Glaube nachher als das Sekundäre. Wir werden auch später noch auf dieses Schema in Kuypers Gedankensystem häufig stoßen.

In Utrecht hat Kuyper sich nicht entfalten können, wie er gerne wollte. Der starre Konservatismus war eine beständige Hemmung für ihn. Es braucht uns denn auch nicht zu wundern, daß Kuyper schon 1870 nach Amsterdam übersiedelte, wo er vier Jahre intensiv im örtlichen Gemeindeleben daran gearbeitet hat, calvinische Gedanken zur Geltung zu bringen, bis er 1874 zum Mitglied unseres Parlamentes („Tweede Kamer”) gewählt wurde und sein Pfarramt niederlegt. Noch als Pfarrer hatte er die Leitung eines Wochenblattes übernommen, das im April 1872 ein Tageblatt wurde („de Standaard”). So wurde er immer stärker auf die Bahnen der nationalen Politik gelenkt. Als er nach 1874 in der Kammer die anti-revolutionäre Politik zu verteidigen anfing, hoffte er sicherlich, auch in dieser Weise für Christus, Kirche und neue Verchristlichung des Volkslebens zu wirken. Kuypers Arbeitskraft war unglaublich. Er war mit einer Gabe der Konzentration gesegnet, welche es ihm möglich machte, aufmerksam zu hören auf das, was Andere sagten, und zugleich einen Leitartikel für seine Zeitung zu schreiben. Lange konnte auch dieser geniale Kopf das nicht aushalten. Im Jahre 1876 brach sein Nervensystem zusammen, er mußte aus dem öffentlichen Leben ganz zurücktreten und längere Zeit im Auslande zubringen, um neue Kräfte zu sammeln.

Kurz vor diesen furchtbaren körperlichen Zusammenbruch fällt noch, was ich wohl mit Vorsicht als die dritte religiöse Krisis in Kuypers Leben anzudeuten wage: sein spontanes Miterleben der englischen „revivals” in Brighton (1875). Er kommt mit den andern Holländern ganz begeistert aus Brighton zurück und spricht und schreibt über die Notwendigkeit einer zweiten Bekehrung, welche eine vollkommene persönliche Hingabe an Jesus Christus in sich schließt. Während seiner politischen Wirksamkeit muß er wohl sehr tief die drohende Gefahr der Intellektualisierung unserer innigsten religiösen Prinzipien gefühlt haben. Er flüchtet sich eine Weile in die Wärme des angelsächsischen Christentums und hofft sich aufrecht zu erhalten in der Praxis der persönlichsten Gottesfurcht. Ob in dieser dritten religiösen Krisis bereits die ersten Zeichen seiner ernsten Nervenkrankheit sich offenbaren, ist eine Frage, die Kuyper selbst später nachdrücklich bejahend beantwortet hat. |336|

Obschon nun nicht mehr direkt teilnehmend an der Parlamentspolitik, war Kuyper doch wieder gleich in politische Kämpfe verwickelt worden. 1878 und 1879 sind die Jahre seiner Arbeit am Programm der anti-revolutionären Partei, und seines lebhaften Bemühens um die freie Existenzmöglichkeit der christlichen Schulen und nicht minder um die Stiftung seiner Freien Universität, deren Gründung er für eine dringende Notwendigkeit hielt, nachdem das Staatsgesetz für das höhere Unterrichtswesen vom Jahre 1876 das religionswissenschaftliche Mißverständnis der Theologie offiziell sanktioniert hatte und durch wenig mehr als die Nomenklatur der theologischen Fakultät wie auch einiger, von Staatsprofessoren zu dozierender Zweige der theologischen Wissenschaft die Erinnerung an die Vergangenheit bewahrte, — da man wirklich wußte, was Theologie als scientia scientiarum in der Enzyklopädie der Wissenschaften zu bedeuten hatte.

Die achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts sind von Kuyper der Förderung seines neuen Wissenschaftszentrums, der Freien Universität, gewidmet. Er was Professor der systematischen Theologie, aber übernahm zugleich auch die Lehrtätigkeit für mehr als ein Fach der litterarischen Fakultät. Seine Vorlesungen über Literaturgeschichte und Ästhetik zogen so viele Hörer an, daß Kuyper sich nach einem größeren Hörsaal umsehen mußte. Als Ältester im Kirchenrat der großen reformierten (Hervormde) Gemeinde in Amsterdam hat er in diesen ersten Jahren nach der Stiftung der Freien Universität den kirchlichen Konflikt, der unter den Namen der Doleanz (1886) bekannt geworden ist, hervorgerufen. Schon von den Jahren seines Pfarramtes in Amsterdam an hatte Kuyper sich entschieden für die Freikirche und gegen die Volkskirche ausgesprochen. Die Publikation seines Traktats „van de Reformatie der Kerken” (1883) enthüllte so klar und freimütig Kuypers Kampfprogramm in Beziehung auf das Kirchenproblem, daß wir uns nicht mehr darüber zu wundern brauchen, daß er einen kirchlichen Konflikt glaubte herausfordern zu dürfen in einem Moment, der ihm strategisch eben passend für seine Sache schien, n.l. den Sieg der freien Bekenntniskirche, oder wie er selbst es in seiner Confidentie (1873) schon andeutete: den Sieg de la multitude des églises über l’église de la multitude!

Im Jahre 1894 erscheint Kuyper zum zweiten Male im Parlament, im selben Jahre, als seine wissenschaftlichste Schrift, die große Encyclopaedie der heilige Godgeleerdheid |337| (in drei Bänden) aus der Presse kam. Es ist wirklich schade, daß man im Auslande dieses Hauptwerk Kuypers so wenig kennt. Deutschland hat es beim Erscheinen vollständig ignoriert, ungeachtet der günstigen Kritik von Prof. Reischle. Die in Amerika (1898) gehaltene Stone Lectures über den Calvinismus fanden eine deutsche Übersetzung, und das hatte zur Folge, daß die Meisten nun ihre Kenntnisnahme vom holländischen Neucalvinismus beschränken auf das Studium dieser sechs Princeton-Vorlesungen, und versäumen, sich zu vertiefen in die viel tiefer gehende Erörterung der neucalvinistischen Grundgedanken, wie Kuyper sie im zweiten, allgemeinen, begründenden Teil seiner Encyclopaedie gab. Praktisch hat die Herausgabe der großen Encyclopaedie etwa den Abschluß der Kulturphilosophischen und theologischen Besinnung Kuypers bedeutet. Von diesem Höhepunkt seiner wissenschaftlichen Schriftstellerwirksamkeit an geht Kuyper weiter bergab und wirft sich mitten hinein in den Strom des politischen Lebens. Obwohl er nun bereits mehr als 50 Jahre alt ist, entfaltet er in diesem letzten Dezennium des 19. Jahrhunderts eine fast übermenschliche Aktivität, in welcher er den Übergang von grundlegender Denkerarbeit zum ruhelosen Leben des praktischen Politikers durchzuführen hat. Noch bis zum Ende des Jahrhunderts versuchte Kuyper, seine Professur in Amsterdam mit seiner Wirksamkeit in der Politik zu vereinigen, und er hatte sich infolgedessen auch im Jahre 1894 gegenüber dem Wahlkreis, der ihn in die „zweite Kammer” entsandt hatte, große Freiheit vorbehalten, vielmals bei den Sitzungen abwesend zu sein. Da er aber 1901 Minister-Präsident wurde, trat er selbstverständlich als Professor an seiner Hochschule zurück, um bis zu seinem Tode in der Politik Führer des „calvinistischen Volksteils” zu bleiben. 1905 wurde bei den neuen Kammerwahlen sein Ministerium gestürzt von Liberalen und Sozialisten. Zu Kuypers bitterer Enttäuschung hatten seine politischen Feinde ihm nicht die Gelegenheit gelassen, sein Programm zu verwirklichen. Er hatte das Gefühl, daß er nur eben angefangen habe, die christliche „Koalitionspolitik” im Bunde mit der Römisch-katholischen Staatspartei in der Gesetzgebung zum Ausdruck zu bringen. Auf einer längeren Reise „rings um das alte Weltmeer” (so heißt das interessante Reisebuch unseres Ex-Ministers, worin er mit prophetischem Blick über mancherlei Probleme schrieb, die mit Völkern, Rassen und Kulturen der Mittelmeergegenden verknüpft sind) suchte Kuyper sein seelisches Gleichgewicht |338| wieder zu gewinnen. 1907 nach Holland zurückgekehrt, entdeckte er, daß er als Weltbürger seinem kleinen Vaterlande entwachsen, daß aber auch umgekehrt die antirevolutionäre politische Partei, welche er groß gemacht hatte, ihm entwachsen war. Er wurde noch einmal Mitglied der zweiten Kammer und erlebte auch bald wieder eine Wendung im Volksleben zur „christlichen” Politik zurück. Abermals trat eine christliche Regierung auf mit einem antirevolutionären Minister-Präsidenten. . . . Es war dem alten Führer des Volkes schmerzlich, sich in viele Maßregeln dieser Regierung von Gesinnungsgenossen nicht finden zu können. Er hatte nicht selten über halb-liberale Politik zu klagen und fand das alte Gold der großen Grundlinien für prinzipielle Politik verdunkelt. Im Jahre 1912 verläßt er die „Tweede Kamer”, um sich bald nachher noch eine Wahl in den Senat (die „Eerste Kamer”) gefallen zu lassen, wo er bis kurz vor seinem Tode wirksam blieb als Mitglied der Staten-Generaal, obwohl Alter und schwache Gesundheit ihm außerstande setzten, viel an den Debatten teilzunehmen. Im November 1920 ist der große Führer, Volksheld in der Schätzung eines nicht geringen Teiles der Bevölkerung Hollands, gestorben. Auch seine erbittertsten Feinde mußten in den Zeitungen in einem kurzen oder längeren „In Memoriam” seine geniale Begabung anerkennen. Tragisch war das letzte Lebensjahr des großen alten Mannes gewesen, als er erleben mußte, daß nicht nur seine physische, sondern auch seine Geisteskraft langsam schwand, und es ihm nicht mehr gelang, auf den Flügeln des Denkens, des beinahe fantastischen Kombinations- und Divinationsvermögens, sich emporzuschwingen. Seine besten Freunde flüsterten nicht selten: unser alter Führer lebt länger, als für seinen Ruhm wünschenswert ist. Und er selbst, wie hat er sich gesehnt nach seiner „Erlösung vom Todesleibe”, — der 83jährige Greis, der in seiner Manneskraft Tausende gefesselt hatte durch seine eindrucksvolle Beredsamkeit!


An der Aufrichtigkeit dieses Christenlebens und der Lauterkeit dieses Führerstrebens darf nicht gezweifelt werden, wiewohl viele Gegner ihn einen Heuchler gescholten haben.

Von seiner tiefen Gottesfurcht bin ich überzeugt. Die geistige Haltung, welche aus vielen seiner Meditationen spricht, macht es mir begreiflich, daß er in seinen besten Augenblicken sich mit Dr. Kohlbrügge innig geistesverwandt fühlte.

Dennoch bleibt Kuypers Bekehrung ein Problem. Oder soll ich |339| nicht lieber sagen: eben darum bleibt sie Problem? Ist Augustins und Calvins Bekehrung auch nicht ein Problem, worüber Fachtheologen umfangreiche Bücher schreiben können, ohne das Geheimnis zu entschleiern?

Ich habe in meiner kurzen Skizze von Kuypers Leben von drei religiösen Krisen gesprochen: die erste etwa 1860, die andere etwa 1866, die dritte 1875. Wir sahen, daß Kuyper selbst die dritte, welche stark angelsächsischen Einschlag hatte, nachher verleugnet hat. Wie es nun darum auch stehen mag, sie beweist wenigstens so viel, daß es eine große Torheit ist, Kuyper als kalten Rationalisten, als ausschließlichen Verehrer des sogenannten calvinistischen Primates des Intellektes zu beurteilen.

Die zwei ersten religiösen Krisen seines Lebens hat Kuyper in seiner Confidentie aus dem Jahre 1873 selbst besprochen. Er tut es so, daß die voluntaristische Durchbrechung einer Hegelschen Denktätigkeit uns sehr deutlich zum Bewußtsein kommen muß. Der gewaltige Ich-mensch wird beschämt, als er den englischen Roman zu Ende liest. Die Demütigung des einen Bruders, des hochmütigen Weltmenschen in diesem Buche, durchlebt er als seine eigene und so erzählt er uns denn auch, daß er vor seinem Stuhl niederkniete gleichwie die eine Romangestalt . . .

Man hat wohl gespottet: also dieser Mensch ist durch einen Roman bekehrt worden, und nicht durch Gottes eigenes Wort! Als ob Gott nicht auch Literatur außer der Bibel dem großen Augenblick dienstbar machen könnte, in welchem Er selbst das Wort nimmt und uns anreden will! Daß ein Kulturprodukt (außer der Bibel) so entscheidende Bedeutung für Kuyper gehabt hat, macht es vielleicht von Anfang an für uns verständlich, wie dieser große Geist sich berufen fühlen konnte, gegen jede Form eng-calvinistischer Abschließung gegen die Kultur zu kämpfen.

Auch hierauf ist noch hinzuweisen, daß diese erste religiöse Krisis in Kuypers Leben zugleich auch das große Heimweh nach einer Kirche, welche Mutter für ihn und alle Gläubigen sei, lebendig gemacht hat. Als in einem gewaltigen Gegensatz zum kirchlichen Leben der englisch-anglikanischen Kirche sieht er nun das kirchliche Christentum Hollands zu seiner Zeit. Das geht ihm als der schreckliche Mangel unseres desorganisierten Kirchenlebens auf, daß unsere Kirche selbst nicht weiß, was sie will, nicht offen und deutlich für ihre Verkündigung des Evangeliums verantwortlich sein will und darum denn auch keine Schutz und Nahrung gebende „Mutter” sein |340| kann. So sehnt sich der junge Kuyper schon nach einer Reformation der Kirche mit Herz und Seele . . .

Die zweite religiöse Krise, welche Kuyper in seiner Beesder Pfarrzeit erlebte, beschreibt er in seiner Confidentie als eine Klärung seines Bewußtseins, weil von nun an seine religiös-christliche Vorstellungswelt in Übereinstimmung kommt mit der gedemütigten Haltung der Seele. Nun wird er ein Prediger des reichen Evangeliums der Versöhnung durch Christus allein, und der Erwählung aus souveräner Gnade Gottes. Seine pietistischen Gemeindeglieder sprachen davon wohl in Begriffen einer unwiderruflich vorübergegangenen Kulturperiode, aber sie sprachen doch noch davon. Wie tiefen Eindruck muß also die reformatorische Theologie mit ihren festen Kirchenformen in calvinistischen Ländern auf das allgemeine Bewußtsein eines früheren Kulturkreises geübt haben! In Kuyper erwacht nun das starke Verlangen für die moderne, westeuropäische Kulturwelt auch so etwas wie eine Regeneration der reformatorischen Theologie mit festen, neuen, calvinistischen Kirchen- und Bekenntnisformen fördern zu helfen. Mit dem Suchen nach theologischem Material zu diesem großzügigen Neubau fängt er gleich an: die Schriften der deutschen Vermittlungstheologen und der holländischen „ethischen” Theologen Chantepie de la Saussaye und Gunning läßt er sich nach Beesd schicken. Er liest und studiert, aber bleibt unbefriedigt. Hier ist zu viel Doppelsinn und Unklarheit, als daß er dieses Gedankenmaterial brauchen könnte zu seiner modern-reformatorischen Theologie und einer christlichen Kulturphilosophie. Das Anziehende der klaren, Scholtenschen, modernen Theologie konnte nicht außer Kraft gesetzt werden durch diese Vermittlungstheologen verschiedener Art. Kuyper wollte einem konsequenten Humanismus einen nicht halben christlichen Theismus entgegensetzen. Nichts anderes war ihm nun übrig geblieben, als wieder zu Calvin selbst zu greifen. Er tat es mit Einsicht und Begeisterung, aber . . . fühlte doch zugleich auf Schritt und Tritt, daß er alles von Grund auf zu transponieren haben würde, weil er ein moderner Kulturmensch war und Calvin an der antiken, mittelalterlichen Kultur mit allen Zeitgenossen im Reformationszeitalter noch teilhatte.

Diese folgenschwere Entdeckung einer gewaltigen Pionieraufgabe, die er als überzeugter Calvinist und moderner Kulturmensch habe, hatte eine fast unmerkliche Verschiebung zur Folge vom primär-theologischen zum primär-kulturphilosophischen Interesse. |341| Eine philosophisch-christliche Erkenntnistheorie wird nun für Kuyper das allererst Notwendige. Er stößt durch die spezifisch-theologischen Fragen hindurch und meint, daß dahinter allgemein-wissenschaftliche, philosophisch-erkenntnistheoretische Grundfragen stehen. Die Theologie als Wissenschaft wird, so meint er, von diesem Boden der allgemeinen Wissenschaftslehre getragen. An diese philosophische Grundlagenarbeit macht er sich nun, und verliert tragisch den Grundgedanken aller echt-reformierten Theologie aus den Augen: daß das Schriftprinzip eben als Prinzip Ausgangspunkt und Anfangspunkt des theologischen Denkens bleiben muß, und daß dieses Prinzip, wenn es eben Prinzip bleiben soll, nicht begründet werden darf in einer philosophischen Erkenntnistheorie oder Wissenschaftslehre.


So habe ich, meines Erachtens, recht, wenn ich von einem Kulturphilosophischen Hauptanliegen bei Dr. A. Kuyper rede. Versuchen wir nun einmal die philosophisch-erkenntnistheoretischen Grundlagen und die philosophisch-metaphysischen Aussichten des Kuyperschen Systems etwas näher zu beschreiben. Wir schöpfen unsere Ausführungen hauptsächlich aus dem zweiten, allgemeinen Teil der Encyclopaedie. Kuyper fängt an mit der Aufstellung eines allgemeinen Wissenschaftsbegriffes, unter den er auch die Theologie als Wissenschaft glaubt stellen zu müssen. Seine Wissenschaftslehre ist offensichtlich anti-idealistisch in ihrer Struktur. Sein „Gegenstück” gegen Hegels Philosophie muß deshalb mit einem realistisch-empiristischen Einschlag in der Erkenntnislehre an den Tag treten. Das erkennende, Wissen suchende Subjekt ist demütig empfangend vor allem. Alle wahre Erkenntnis fängt mit Empfindung und Wahrnehmung an. Die ganze, kosmische Wirklichkeit als Objekt der Wissenschaft ist nach Kuyper aufzulösen in (substanzielle) Momente und Verhältnisse zwischen diesen Momenten. Die wissenschaftliche Reproduktion der Momente im Bewußtsein vollzieht sich durch äußere Wahrnehmung oder (für die Geisteswissenschaften) durch innere Empfindung des intuitiven Selbstbewußtseins. Die wissenschaftliche Reproduktion der Verhältnisse zwischen den Momenten geschieht mittels des logischen Denkens. Die Zweiteilung aller Wirklichkeit in Momente und Verhältnisse versucht Kuyper streng festzuhalten, um damit den empiristischen, anti-idealistischen Anfang des Erkenntnisprozesses aufrecht erhalten zu können. Daß diese wesentlich antike, vorkantianische, |342| metaphysische, mehr oder weniger nach Leibniz’ Muster gestaltete Erkenntnislehre vor dem Forum der echten Erkenntniskritik nicht bestehen kann, ist ohne weiteres klar.

Diese Philosophie des Erkenntnisprozesses hat übrigens nichts spezifisch-„christliches” in sich. Eine Reaktion gegen den erkenntnistheoretischen und metaphysischen Idealismus ist fast immer mit Notwendigkeit empiristisch-realistisch eingestellt. Und eine vorsichtige Orientierung an dem Leibnitzianismus hat sicherlich keine große Möglichkeit in sich zur Entwicklung in anti-humanistischer Richtung.

Das wesentlich „Christliche” an Kuypers Wissenschaftslehre scheint sich erst im zweiten Kapitel des zweiten Bandes der Encyclopaedie zu zeigen, wo von der Störung des Wissenschaftsprozesses durch das „factum peccati” gehandelt wird. Als Erfahrungsfaktum versucht Kuyper hier die Sünde in seine Wissenschaftslehre einzuführen, und nachdem er sich selbst so als denkender Christ eine Grundlage glaubt geschaffen zu haben zur prinzipiellen Zweiteilung der Entwicklung der Wissenschaft, schreibt er die berühmten Paragraphen über Zwei Arten von Menschen und Zwei Arten von Wissenschaft. An die wissenschaftliche Arbeit machen sich in unserer Welt zwei Arten von Menschen: wiedergeborene und unwiedergeborene. Die ersten sind prinzipiell anders als diejenigen, welche die Wirkung der paliggen™sia nicht erfuhren. Das factum peccati ist in ihnen im Prinzip — potentiell — neutralisiert, und damit sind sie, und nur sie, richtig eingestellt gegenüber der großen Weltwirklichkeit. Selbstverständlich wird es nun auch zweierlei Wissenschaft geben: die Wissenschaft der „Söhne der Palingenesia” und die Wissenschaft der unwiedergeborenen Menschen. Man kann die Frage aufwerfen, ob die Konsequenz der Einführung des Palingenesiebegriffes in die allgemeine Wissenschaftslehre nicht diese sein soll, daß man von vier Arten Wissenschaft reden muß. Denn Kuyper stellt nicht nur das Subjekt aller Wissenschaft (nämlich den erkennenden Menschen oder die erkennende Menschheit) unter die Wirkung der Wiedergeburt ‡pè qeoÂ; auch das Objekt aller Wissenschaft (nämlich der ganze Kosmos) „ist in der Palingenesia begriffen”; deshalb können doch zwei Arten erkenntnistheoretischer Subjekte wissenschaftlich affiziert werden von zwei Arten Objekte der Erkenntnis, und das Resultat würde sein: vier Arten Wissenschaft. Es hilft nicht, dagegen zu bemerken, daß doch nur das wiedergeborene Subjekt den |343| Kosmos verstehen kann, so weit er in der Wiedergeburt begriffen ist. Nachdem im Rahmen dieser neucalvinistischen Wissenschaftslehre Sünde und Wiedergeburt eingeführt sind als fundamentale Kategorien, müssen sie auch als Fakta, als Erscheinungen gelten, denn sonst würde der empiristische Realismus in dieser Erkenntnislehre im Grunde vernichtet sein. Kuyper sagt zwar, daß der Nicht-wiedergeborene niemals das Anders-sein des Wiedergeborenen anerkennen kann, weil er kein Organ zur Anerkennung des Transzendenten, des Göttlichen, hat. Aber das gilt doch nur insoweit, als das unwiedergeborene Subjekt Subjekt der Wissenschaft ist. Der erkennende Mensch als Objekt der Wissenschaft, als Teil des Kosmos, muß doch in seiner Wiedergeburt allgemein erkennbar sein, denn er ist anders, wesentlich anders, sein Lebensgrund ist realiter umgeändert, . . . so sagt Kuyper selbst unaufhörlich.

Als das erkenntnistheoretische Subjekt der (wahren) Wissenschaft sollen die Söhne der Palingenesia dennoch einander kennen lernen an ihrem Bekenntnis der Palingenesia. Sie sollen sich zusammenschließen auf Grund ihres gemeinschaftlichen Bekenntnisses des göttlichen Faktums der Wiedergeburt in dieser Welt. Sie hängen im Grunde doch auch zusammen, denn die Wiedergeborenen sind nicht auf sich selbst stehende Individuen; sie bilden zusammen einen „Organismus”: die regenerierte (in potentia regenerierte) Menschheit. Über die geheimnisvolle Umwandlung, die vom Geiste unmittelbar gewirkt wird, kann der Mensch nicht urteilen. Sie bleibt Gottes Geheimnis. Darum kann sie selbstverständlich auch kein Maßstab zum Zusammenschluß im wissenschaftlichen Bemühen sein. Der Maßstab bleibt: das mit Bewußtheit Sich-Bekennen zur Palingenesia. Darin manifestiert sich der verborgene Geistesakt der Seinsänderung.

So sollen nun die Bekenner der Palingenesie sich zusammenschließen und Wissenschaft treiben, ja die ganze Enzyklopädie der Wissenschaften zur Entwicklung bringen von ihrem speziellen Gesichtspunkt aus. Die „christliche” Universität hat Daseinsrecht, denn das Bekenntnis des Grundfaktums der Wiedergeburt drängt zum Ausbau eines allumfassenden Systems der Welt- und Lebensanschauung. Zwei große Lager von Wissenschaftlern werden einander gegenüberstehen: Humanisten und Christen, Normalisten und Abnormalisten. Humanisten und Normalisten leugnen das factum peccati und darum die Notwendigkeit der Wiedergeburt, und |344| der Erlösung der Welt; ihre Gedanken kreisen um den optimistisch beurteilten Menschen.

Die Christen und Abnormalisten sind theozentrisch in ihren Grundanschauungen. Sie fangen mit grimmigem Ernste mit dem Bekenntnis Gottes des Schöpfers an, und erschrecken vor dem Abnormalen in aller Wirklichkeit, wie sie ist. Sie wissen von Wiedergeburt und Erlösung und stehen darum den ganzen Kosmos (als Objekt der Wissenschaft) anders an. Kuyper hat für seine christiana philosophia das Recht gefordert, sich zu entfalten an einer Freien Universität aus dem Prinzip der Palingenesie. Sein Gegensatz zum deutschen Idealismus gab ihm eine gewisse Vorliebe für naturphilosophische Begriffe. Seine ganze Gedankenwelt hat ein naturphilosophisches Gepräge. Auch über die Mysterien der Heilsoffenbarung drückt er sich gerne in organisch-biologischen Bildern und Gleichnissen aus. Die große Antithese zwischen den zwei Arten von Wissenschaft wird gerne kurz zusammengefaßt in den Begriffspaaren Schöpfung-Evolution, Elektion-Selektion. Die Philosophie der Offenbarung war für Kuyper eine Metaphysik der Schöpfung und der Elektion. Damit drohten diese theologischen Begriffe Schöpfung und Prädestination Grundbegriffe zu werden für eine Natur- und für eine Geschichtsphilosophie, in derselben Weise wie die Begriffe Sünde und Wiedergeburt philosophisch geprägt wurden in seiner allgemeinen Wissenschaftslehre.

Darin liegt etwas Ärgerliches für jeden Philosophen, der ohne alle theologischen Voraussetzungen die Lektüre dieser christlichen Philosophie Kuypers anfängt, und dann plötzlich auf theologische Begriffe stößt, welche er als Philosoph nicht verstehen kann. Und dennoch hat Kuyper in keiner Weise sie vorbereitet auf einen solchen Übergang; im Gegenteil, er philosophierte ruhig weiter, als ob er immer das Folgende aus dem Vorhergehenden ableite . . . Deshalb wird sich der wirkliche Denker dem unangenehmen Eindruck nicht entziehen können, daß von Kuyper in seiner christlichen Philosophie theologische Kategorien eingeschmuggelt werden.

Andererseits aber ist dieses Verfahren auch gefährlich für alle echte Theologie.

Ich habe in meinem Thema von der Theologie des holländischen Neucalvinismus gesprochen. Gibt es aber, streng genommen, wohl eine Theologie des Neu-Calvinismus? Vor einigen Jahren ist bei uns in Holland ein Buch erschienen, worin die |345| Theologie Calvins und die Theologie Kuypers verglichen werden und Kuyper gegen den Reformator Genfs ausgespielt wird als moderner Weltmensch unter dem Banne des naturwissenschaftlichen Denkens gegenüber dem weltfremden Supranaturalisten des 16. Jahrhunderts. Solch eine Vergleichung, wie Hylkema sie in seinem Oud- en Nieuw-Calvinisme (1911) aufgestellt hat, ist ganz und gar verfehlt. Kuyper als Kulturphilosoph ist nicht ohne weiteres mit dem Theologen Calvin zu vergleichen. Wer dennoch so verfährt, beweist, daß er allzu geneigt ist, Theologie in ihrer Eigenart zu verkennen und zu verwirren mit metaphysischer Weltanschauungslehre. Entweder soll man Kuypers System mit der philosophischen Umwelt in Calvins Zeitalter vergleichen (was nicht sehr interessant ist), oder man soll den theologischen Gehalt der Kuyperschen Gedankenwelt erst aufsuchen und der kulturphilosophischen Färbung seiner theologischen Grundbegriffe in ihrer Einwirkung auf die Theologie nachspüren und dann erst Theologie mit Theologie, neu-calvinistische mit alt-calvinischer, vergleichen.

In der Situation von Kirche, Theologie und Kultur, so wie Kuyper sie vorfand, als er die Wahrheit des klassisch-reformierten Bekenntnisses von Herzen zu verstehen anfing, ist es, wenn wir dazu Kuypers napoleonischer Herrschernatur Rechnung tragen, sehr wohl zu begreifen, daß er in der ersten Frontlinie der kulturphilosophischen Konflikte zu kämpfen wünschte. Die Theologie im eigentlichen Sinne blieb im Hintergrunde. Es ist nicht zufällig, daß Kuyper wohl seine Encyclopaedie, aber niemals seine Vorlesungen über Dogmatik selbst herausgegeben hat. [Die Dictaten Dogmatiek in fünf großen Quartbänden sind von Schülern Kuypers herausgegeben worden, ohne daß der Meister sich für den Inhalt verantwortlich erklären wollte!] Nun ist die große Gefahr einer solchen Kampfstellung an den Grenzen der philosophischen Kulturwelt diese, daß die ruhig hinter der Frontlinie liegende Theologie nicht zur Fouragierung des kulturphilosophischen Lagers dauernd beiträgt, sondern vielmehr das Verhältnis ein umgekehrtes wird und die Theologie mehr und mehr genährt wird von der Beute, welche der kulturphilosophische Calvinist seinen Feinden, den Paganisten, Humanisten und Hegelschen Idealisten, entrissen hat. Die Geschichte des Neu-Calvinismus nach Kuypers Tod hat genügend gezeigt, daß die Theologie der freien reformierten Kirche Hollands an dieser ungewöhnlichen Nahrung schon mehrmals sich den Magen verdorben hat. |346|

Besonders deutlich tritt das ans Licht in den Teilen der dogmatischen Theologie, welche Kuyper im zweiten (philosophischen) Bande seiner Encyclopaedie beinahe von Anfang an berühren mußte oder in den kulturhistorischen Ausführungen seiner amerikanischen Vorlesungen über den Calvinismus mit Vorliebe gebrauchte.


Nun glaube ich, daß wir im Stande sein werden, so vorbereitet an die Theologie des holländischen Neu-Calvinismus heranzutreten, und daß wir wenigstens in einige ihrer Merkmale Einsicht bekommen können. Wir müssen uns beschränken auf eine Kurze Charakterisierung der folgenden theologischen Lehren: den Begriff der Palingenesia, den Schriftglauben, den Schöpfungsgedanken (mit der Lehre der allgemeinen Gnade), die Prädestinationslehre und den Kirchenbegriff.

Der Palingenesie-Begriff. Wir sahen, wie grundlegend dieser Begriff in Kuypers System ist. Die unmittelbare, geheimnisvolle Wirkung des H. Geistes zur Änderung des tiefsten menschlichen Seelengrundes, das ist in der Encyclopaedie für Kuyper primär die Wiedergeburt. Er gebraucht für diese Geisteswirkung gerne das Bild der Pfropfung, welche in der Pflanzenwelt nicht nur graduelle Unterschiede, sondern wesentlich neue Entwicklungsmöglichkeiten hervorrufen kann. Der gepfropfte Apfelbaum trägt durchaus andere Früchte als der wilde Baum. So ist der Wiedergeborene durch die regenerierende Einwirkung des H. Geistes auch wesentlich anders geworden als die anderen Menschen. Er braucht es selbst nicht sofort zu wissen, daß er wiedergeboren wurde. Jahre nachher kann es ihm vielleicht erst zum Bewußtsein kommen in der erleuchtenden Berührung mit dem Worte Gottes, das den Glauben durchbrechen läßt. Die persönliche „psychische” Wiedergeburt geschieht ohne das Wort Gottes, — der Geist weht, wohin Er will 2). Wort und Offenbarungszeugnis haben mit dem Bewußtsein zu tun, nicht primär mit dem Sein des Menschen. Wort und Glaube wollen immer korrelat sein, aber unabhängig davon gibt es eine noch andere, tiefere Korrelation: die zwischen H. Geist und vorbewußtem Seelengrund des Menschen. |347|

Diese Wiedergeburtslehre kann ihre theologischen Wurzeln nicht haben in Calvin, der keine nicht durch das Wort vermittelte regeneratio kennt. Diese Lehre geht vielmehr zurück auf die Dordrechter Theologie des 17. Jahrhunderts, welche mit gewissen Restriktionen den Individualismus der wiedergeborenen Einzelnen lehrte, und die Gnade der Wiedergeburt teilweise als „einfließende Gnade” des H. Geistes auffaßte 3). Bei diesem Akzent auf direkte Geisteswirkung in des Menschen Innern kommt die Wortvermittlung aller Heilsarbeit Gottes an Menschen zu kurz. Der Mensch konnte anfangen, als Wiedergeborener zu fragen, was er in seinem Innern an Kennzeichen des neuen Lebens „besaß”. Es war nicht mehr notwendig, nur durch Glauben selig zu werden. Statt „glaubenskritisch” konnte der Theologe sich vorsichtig-realistisch verhalten gegenüber den geistlichen Wirklichkeiten. Der Glaube war nicht länger die aprioristische Form, worin alle Gotteserkenntnis, auch die Erkenntnis aller Teile der Heilswahrheit, gefaßt blieb. Der Theologe meinte sich selbst gnostisch-realistisch in die Zuschauer-Position versetzen zu können und als ein Dritter (wiedergeborenem) Sein und (glaubendem) Bewußtsein in ihrer gegenseitigen Beziehung nachspüren zu können. Als ob man das etwa anders als bewußt und im Glauben je realisieren könnte! Und als ob „Sein” und „Bewußtsein” beide nicht Kategorien des erkennenden Menschen seien!

Natürliche wußte auch Kuyper als glaubender Christ wohl sehr gut, daß er von der Wiedergeburt nicht in sich selbst „besitze”. Der Aufbau seines Systems aber zwang ihn, bei dem Aufleuchten dieser tiefen Wahrheit immer sich in biologische Terminologien zu flüchten und statt von sola fide zu reden, zu sprechen von einem „potenziellen” oder „keimartigen” Besitz des neuen Lebens im tiefsten Wesen der menschlichen Persönlichkeit.

Der Schriftglaube. Kuyper konnte selbstverständlich kein reformierter Schrifttheologe sein, weil er ein Palingenesie-Theologe war. Geist und Wort waren bei ihm nicht länger in derselben unlöslichen Beziehung zueinander, gleichwie Luther und Calvin immer davon sprachen. Für Kuyper geschah die wesentliche Heilswirkung Gottes ohne das Wort. Wir erinnern uns wieder, wie er in seiner Utrechter Antrittspredigt (1867) eben die ganze Manifestation der Fleischwerdung des Wortes Gottes nur als die Heilstat |348| fassen konnte, von welcher man nur „zweitens” sehr große Dinge sagen kann, die alle in Beziehung zu einer Bewußtwerdung des schon anwesenden Lebens gesehen werden müssen. Wo so von der Fleischwerdung geredet wird, da ist doch klar, daß theologisch die Schrift a fortiori (als Zeugnis der Fleischwerdung) nur sekundäre Bedeutung haben kann.

Wo Kuyper in der Seinswirklichkeit der Palingenesie den Ausgangspunkt seines christlichen Systems findet, da ist es ihm selbstverständlich unmöglich, das Schriftprinzip zum Ausgangspunkt seines religiösen und philosophischen Denkens zu machen. Wohl würdigt er die H. Schrift als das Erkenntnisprinzip der Theologie in seiner Encyclopaedie, aber er will damit auch sagen: nur der Theologie. Für die wahre Wissenschaft des Kosmos ist sie es nicht. In seiner ganzen Erkenntnislehre war von der H. Schrift nur beiläufig die Rede als „das Buch der Palingenesia”.

Aber auch für die Theologie ist bei Kuyper die H. Schrift nicht im klassisch-reformierten Sinne das Prinzip der Erkenntnis. Als Norm der Gotteserkenntnis hat er sie gegen Aufklärung und liberale Theologie in den Vordergrund gebracht. Als Quelle der Gotteserkenntnis hat er die H. Schrift dennoch nicht richtig würdigen können, weil er nicht bereit war, nur über die H. Schrift als Quelle der kirchlichen Predigt an die H. Schrift als Quelle der dogmatischen, wissenschaftlichen Gotteserkenntnis heranzutreten. Nur mit der Kirche als Organismus, als sòma to CristoÂ, als „Gemeinde der Wiedergeborenen”, wollte er die theologische Wissenschaft in Verbindung setzen: nicht mit der Kirche als Institut, d.h. mit der Kirche, die auch Predigtkirche ist. Bei einem solchen engen Verhältnis von Theologie und institutioneller Kirche fürchtete Kuyper, daß sein ganzes Ideal einer freien Universität in Rauch verschwinden würde.

Daß Kuyper kein Schrifttheologe im strengen Sinne war, das heißt nun aber doch nicht, daß er nicht versucht hat, die Autorität der H. Schrift unaufhörlich zu verteidigen. Die Encyclopaedie beweist dies. Und seine erste Rektoratsrede an der Freien Universität beweist ebenfalls, wie er gegen die Bibelkritik zu kämpfen sich berufen glaubte. Es würde uns zu weit führen, Kuypers Schriftauffassung in ihrer Besonderheit nachzugehen. Zwei Bemerkungen will ich mir noch darüber erlauben: erstens, daß die theologische Wurzel von Kuypers Schriftlehre auch in der Theologie des siebzehnten Jahrhunderts liegt; mehr in Gisbertus Voetius’ |349| Schriften, wo dieser die Unterscheidung zwischen „auctoritas normativa” und „auctoritas historica” für Inhalte der Bibel bereits gelten ließ, als in Calvins Institutio und Kommentaren. Sobald „Wahrheit” in der christlichen Religion direkt und realistisch aufgefaßt, statt als Glaubenswahrheit verstanden wird, kommt man in Gefahr, in scholastische Bahnen zu geraten. Zweitens ist zuzugeben, daß die Schüler unter den Neu-Calvinisten viel weiter gegangen sind als der Meister wollte. Die jüngste Entwicklung des Schriftglaubens in den freien reformierten Kirchen Hollands würde Kuyper sicherlich nicht gut geheißen haben. Er war in seiner lebendigen Denkerpersönlichkeit ein bitterer Feind aller Scholastik, die nur „Begriffe kauen” konnte. Er wußte noch, daß die Bibel als „das Buch der Palingenesie”, aber nicht als Handbuch für allerlei Weltanschauungsprinzipien gebraucht werden konnte.

Und dennoch hat Kuypers, auch von seinen Schülern hochverehrte Theologie des „organischen” Schriftinspiration (wieder die biologisch-naturphilosophische Bildersprache!) nicht verhindern können, daß spätere Generationen von Neucalvinisten Gottes Wahrheit im ersten Buche der Bibel nur dann für sichergestellt hielten, wenn eine Kirchensynode u.a. beschlossen hätte, daß die Bäume im Paradiese „sinnlich-wahrnehmbare Bäume” gewesen seien!

Der Schöpfungsgedanke und die Lehre der allgemeinen Gnade. Der locus de creatione ist wohl eine der schwierigsten in der christlichen Dogmatik. Besonders wenn der Dogmatiker metaphysische-spekulativ veranlagt ist, wird dieser Teil der Glaubenslehre sehr leicht ein Auszug einer christlichen Weltanschauungslehre. Von der von den Studenten der Freien Universität geplanten zweiten Herausgabe der Dictaten Dogmatiek hat Kuyper gezögert, ob er wohl die Drucklegung seines Kollegs über die Schöpfung zulassen solle. Er dachte damals selbst an eine separate Bearbeitung und Herausgabe dieses Stoffes, teils weil er die Schwierigkeiten dieses Themas für einen Dogmatiker kannte, teils auch weil er gegen die Evolutionisten den christlichen Schöpfungsglauben so tief und breit wie möglich gerne entwickeln wollte. Dieser Wunsch Kuypers zeigt eben, daß er selbst sehr geneigt war, den ersten Artikel des Apostolikums: ich glaube an Gott den Schöpfer, so zu lesen, als ob es darin den Glauben an die Schöpfung zu bekennen galt. In seinen Vorlesungen über die Schöpfung, so wie ich diese in meinem Exemplar der Dictaten |350| Dogmatiek nachschlagen konnte, zeigt er, daß er wohl von der eigentlichen Aufgabe des Dogmatikers weiß: die Schöpfung zu beschreiben als opus Dei, als Werk Gottes, — aber in der modernen Kultur, meint Kuyper, soll der Dogmatiker bereit sein, „zum anthropologischen Gesichtspunkte” überzugehen und gegen Naturalismus und mechanistischen Evolutionismus eine theistische Weltanschauung in diesem Rahmen des Schöpfungsgedankens auszuarbeiten!

Die neu-calvinistischen Schüler Kuypers sind auf diesem Wege immer weitergegangen. Sie wollen immer den Wagen der dogmatischen Besinnung, — wie einer unserer holländischen Theologen es sehr fein ausgedrückt hat, — sofort zurückrollen lassen zu der Schöpfung. Das heißt, sie transponieren, bevor sie es recht wissen, jedes dogmatische, theologische Thema in ein metaphysisches, weltanschauliches, und haben fast ganz vergessen, daß Calvin in seiner Institutio Gott den Schöpfer vor allem bekennt, um darin zugleich seinem Widerspruch gegen Gott zu bekennen. In dem reformatorischen Zeitalter (ich denke an unseren Heidelberger Katechismus) sind „de Deo Creatore” und „de miseria hominis” parallele Titel für denselben Hauptteil der christlichen Glaubenslehre. Die neucalvinistische Theologie dagegen wird bedroht von einer spekulativen, naturphilosophischen Entstellung auf der ganzen Linie. Die Klage de profundis miseriae wird zu leicht überstimmt von dem Lobgesang über die Glorie der „Geschaffenheit” (zur Herrschaftsübung) nach dem Bilde Gottes.

Vom Schöpfungsgedanken aus hat Kuyper auch seine Lehre von der communis gratia am liebsten entwickelt. Es würde über die gefährliche Umbiegung dieser calvinischen Lehre viel zu sagen sein. Schon vor Jahren habe ich in einer holländischen Zeitschrift (Onze Eeuw, 1919) darauf hingewiesen, daß Kuypers Lehre von der allgemeinen Gnade die Einheit seines Gedankensystems ernsthaft bedroht. Wer aus dem Palingenesie-Begriff seine ganze Wissenschaftslehre und Weltanschauung zu entwickeln sich bemüht, darf wirklich nicht so sehr in Dur sprechen über Gottes allgemeine Gnade mit ihrem selbständigen Ziel, nämlich die Schöpfung der Verherrlichung Gottes dienstbar zu machen ungeachtet des Sündenfalles. Es fragt sich dann natürlich sofort, ob wenigstens die kosmische Wiedergeburt wohl so absolut notwendig sei, als Kuyper das seine liberalen Gegner glauben lassen wollte. Um nicht ungerecht zu sein, sollen wir aber auch nicht vergessen, daß |351| Kuyper für seine kulturphilosophischen Ideale durchgehends einen sehr schweren Kampf zu führen hatte mit zwei Fronten: gegen den Liberalismus, aber auch gegen den kulturfeindlichen Pietismus. Gegenüber diesen letzen „Keller-Christen”, wie er sie wohl genannt hat, machte er gerne die Frontlinie „der allgemeinen Gnade Gottes” breit. Obwohl er damit die Forderung einer neuen Verchristlichung des ganzen Kulturlebens abschwächen, ja teilweise sinnlos machen mußte. In seinem großen Buche über „die allgemeine Gnade” hat er selbst öfters zugegeben, daß es stricto sensu nicht möglich sei, von christlicher Wissenschaft, christlichem Staat, christlicher Kunst uws. zu reden. Auf dem Gebiete der allgemeinen Gnade zog er dann die souveränen Kreise, jeden mit eigenem Lebensgesetz nach der Schöpfungsordnung. M.E. schließt er damit aber diese Kreise höchst gefährlich ab von dem Einflusse des Wortes Gottes als H. Schrift und Kirchenwort. Und sehr uncalvinisch hat er namit nolens volens beigetragen zur modernen Säkularisierung des ganzen öffentlichen Lebens.

Die Prädestinationslehre. Auch der theologische Begriff der Prädestination wird bei Kuyper naturphilosophisch gefärbt. Aus dem kulturgeschichtlichen Entweder-Oder Elektion-Selektion wird das ersichtlich. Das Stück der Erwählung steht bei Kuyper primär im Locus de providentia Dei, und nicht vor allem im Hauptteil de salute. Was Kuyper in seinen Stone Lectures über die Unveränderlichkeit der Weltordnung auf Grund des Dekretes des souveränen Gottes redet, verrät sehr deutlich der Einfluß von Scholtens Determinismus. Er bekämpft in diesem Zusammenhang den Arminianismus mit genau denselben Waffen als sein Lehrmeister in Leiden. Es läßt sich übrigens nicht leugnen, daß diese Fassung der Prädestination im Hauptrahmen der göttliche Providenz schon im reformatorischen Zeitalter selbst zu spüren ist. Man kann sagen, daß die theologische Wurzel dieser Änderung schon bei Calvin selbst liegt, indem Katholiken und Humanisten (Pighius und Bolsec) ihn in ihrer Polemik dazu verführt haben, auf dem von ihnen gewählten Terrain (dem der allgemeinen göttlichen Providenz) seine Prädestinationslehre weiter zu entwickeln.

Kuypers Vorliebe, einen Zusammenhang zu konstruieren zwischen Elektion und Gesetzmäßigkeit (als Demonstration der festen Ordnung des göttlichen Weltplanes) machte es ihm weiter auch möglich, nicht wenig zu assimilieren von den Ansichten der |352| wissenschaftlichen Verteidiger der „Selektion”. Über diese Brücke der hochgelobten Gesetzmäßigkeit (die Naturgesetze sind ja Dienstknechte Gottes!) konnte Kuyper hineinschreiten in das Land seiner Gegner und manche ihrer Aussichtstürme erobern.

Der Kirchenbegriff. In verschiedenen Beziehungen habe ich über Kuypers Kirchenbegriff in dieser Vorlesung schon einiges gesagt. Troeltschs Soziallehren gehen hauptsächlich auf diesen Lehrpunkt des Neu-Calvinismus näher ein. Ich möchte auch mit Rücksicht auf den Kirchenbegriff auf die Lehre der Wiedergeburt als das pròton yeÂdov der Theologie Kuypers verweisen. Geist und Wort können niemals ungestraft voneinander gelöst werden. Wer damit anfängt, muß sich nicht wundern, wenn eine Entgleisung in allen Teilen der Glaubenslehre sich alsbald erkennbar macht. Auf Grund des Kuyperschen Palingenesie-Begriffes ist es ganz und gar verständlich, daß nachher für die Freikirche der „bewußten Bekenner” eingetreten werden wird. Die Kirche muß dann aufgebaut gedacht werden aus wiedergeborenen Einzelnen, die, nachdem die Palingenesie ihnen in Bekehrung und Glaube zum Bewußtsein gekommen ist, zusammentreten sollen, um „den Leib Christi” in der Welt zu offenbaren. Der Ausgangspunkt des Kirchengedankens wird also der gläubige Einzelne, und kann nicht mehr sein „das Wort der Predigt”, das die Kirche verkündigt. Nachdem die Wiedergeburt von der Wortverkündigung losgelöst ist, wird es in Calvins Sinne unmöglich, die Kirche des Wortes als „Mutter der Gläubigen” zu bekennen, die nicht nur das erleuchtete Wiedergeburtsbewußtsein, sondern auch das neue Leben selbst aus ihrem Schoße gebärt. Dieser Kuypersche Individualismus und Spiritualismus erklärt auch den schweren Akzent auf der Autonomie der örtlichen Gemeinde. Das Sich-zusammenschließen der (wiedergeborenen) Menschen wird Dominante in der Kirchenbildung, und dieses Prinzip macht sich a fortiori geltend in der Gestaltung des Kirchenverbandes. Die autonomen Ortskirchen, die als Kirche Christi mit allen ihren Prädikaten anzusehen sind (örtliche Offenbarung des Leibes Christi), schließen sich freiwillig zusammen auf Grund eines „Accoord van kerkelyke gemeenschap” zu einer Gesamtkirche. In der Kirchenpolitik feiert bei unseren neu-calvinistischen Freunden ein gewisser Humanismus des wiedergeborenen Menschen (aber doch ebensogut ein allzu menschlicher Humanismus wie jene Form des Humanismus, die sie bekämpfen!) höchst bedauerliche Triumphe. |353|

Am Ende dieser Vorlesung will ich jedoch nicht schließen ohne die Versicherung, daß in diesen Stunden ein Gegner Kuypers gesprochen hat, der mehrere Jahre die Schriften des großen Neucalvinisten studiert hat und auch sehr vieles diesem Großmeister der calvinistischen Kulturphilosophie zu verdanken hat 4). Wenn Kuyper selbst micht hätte hören können, würde er freundlich gesagt haben, daß ich, zum Teil mindestens, die Rolle eines theologischen Gewissens für ihn gespielt hätte.

Gleichzeitig mit Kuyper wirkte als Dogmatiker der holländischen Neucalvinisten Dr. H. Bavinck in Kampen. Er hat eine große Gereformeerde Dogmatiek in vier Bänden herausgegeben, welche zeigt, daß er primär Theologe und nicht Kulturphilosoph war. Zeitgenosse und Freund Kuypers, hat er viele Jahre lang als ein stiller, ruhiger Mentor gewirkt, um Kuyper vor all zu fantastisch-spekulativen Entgleisungen zu bewahren, bis der Imperator gegen seinen Freund zuletzt doch die Richtung der neu-calvinistischen Entwicklung weiter bestimmte und Bavinck aus der kirchlich-theologischen Sphäre in Kampen nach der Freien Universität übersiedeln ließ (1902). Dieser übergang bedeutet das Ende Bavincks echttheologischer Wirksamkeit. Auch er ist nachher in den kulturphilosophischen Randgebieten wirksam, beschäftigt mit pädagogischen und psychologischen und politischen Problemen. Es ist nötig, den heutigen holländischen Neu-Calvinismus beständig zu Calvin zurückzurufen. Ich tue es mit großem Respekt für die Ideale Dr. A. Kuypers, aber auch in der Gewißheit, daß er und seine Schüler einiges Theologische vergessen haben.

In den meisterhaften Seiten über die Geschichte der Theologie am Schluß des zweiten Bandes seiner Encyclopaedie spricht Kuyper in einer der Paragraphenaufschriften von einem zu früh erzwungenen Siege. Er deutet damit die mittelalterlich-scholastische Theologie an. Aber könnte man von der ganzen neu-calvinistischen Welt- und Lebensanschauung nicht mit ebenso gutem Rechte sagen, daß sie ein zu früh erzwungener Sieg sei? Und diesmal ist der vorzeitige Sieg desto tragischer, weil Kuyper glaubte, den Feind in allen seinen verdeckten Aufstellungen gefunden und daraus vertrieben zu haben. Kuyper hoffte, daß durch |354| seine Initiative der wirkliche Sieg der christlichen Theologie und Philosophie in der modernen Kultur zutage treten würde.

Es muß gesagt werden, daß die Geschichte schon gezeigt hat, daß hier eine Illusion vorlag. Der anti-humanistische Philosoph Kuyper war augenscheinlich selbst vom Humanismus infiziert. Und die späteren Verehrer Kuypers noch mehr. Der Calvinist wurde zu voreilig als Königsmensch proklamiert. Die paradiesische Herrschaft über alles Geschaffene wirkte so sehr, daß das Pilgerkleid unzeitig von den Schultern fiel.

Unsere Zeit lehrt uns, christliche Theologen, wohl sehr deutlich, daß uns in diesem Kulturstadium nur eine theologia viatorum, als theologia crucis zu treiben, übrig bleiben kann.

Ob noch einmal andere Zeiten kommen werden, bleibe in dieser Beziehung dahingestellt. Ich für mein Teil halte fest am Glauben, daß auch dieses Unmögliche möglich werden kann in einer ganz neuen Gestaltung eines „organischen” Kulturlebens, das der christlichen Kirche wiederum als „Seele” des öffentlichen Lebens ihren Platz zu geben versuchen wird.

Jedenfalls muß es aber ausgeschlossen bleiben, daß man eine solche Zukunft herbeizwingen könnte mit Ausschaltung des Kirchenproblems als des zentralen, auch wenn man als angeblich vordringlicheres Werk die „Christianisierung” der Wissenschaftslehre fordert und seine Erfüllung calvinistischen Gelehrten zutraut.




1. Joh. Calvini et Johannis a Lasco de Ecclesia sententiarum inter se compositio.

2. Das bedeutet nicht, daß Kuyper nicht davon überzeugt gewesen wäre, daß der Heilige Geist vorzüglich in den Kreisen des christlichen Gnadenbundes seine Wiedergeburt realisierte. Kuyper hat sich wohl einmal verführen lassen, hier Berechnungen zu machen.

3. Cf. A. Kuyper, Het Werk van den Heiligen Geest, Kampen 1927, S. 379 ff.

4. Eine Darstellung Kuyper’s, die ihn durchwegs positiv würdigt, hat Kolfhaus gegeben. (Wilhelm Kolfhaus, Dr. Abraham Kuyper. Ein Lebensbericht. 240 S. Elberfeld2 1925.)




a. Geen verdere bibliografische gegevens getraceerd.







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