KAPITEL III.

DIE WICHTIGSCHEN STRUKTUREN EINES PARADOXONS IN DER GEGENWART.

§ 1. Einleitung.

Bis dahin fanden wir, wie schon gesagt wurde, drei Haupttypen des Paradoxons. Typ I lag auf der sog. „horizontalen Linie” des Denkens, aber indem er dieser „horizontalen” Linie weiter folgte und auch auf dieser Linie zu Korrekturen des Denkens kam, wollte er die logischen Schwierigkeiten überwunden sehen. Typ II lag in der Schneidung der „horizontalen” Linie des Denkens (der „Spekulation”) einerseits, und der „vertikalen” Linie der Offenbarung (der Ewigkeit, des „Ganz-Anderen”) andererseits und bedeutete darin einen Sieg, der durch dieses „Ganz-Andere” über das aktuelle unparadoxe Denken errungen war. Typ III lag wieder auf der „horizontalen Linie”, aber dann so, dass das Denken gerade in dem Paradox sich selbst in seiner horizontalen Bewegung aus eigener Kraft zur Ueberwindung geführt hatte.

In rohen Umrissen sind hier schon die Grenzen angedeutet, innerhalb welcher die heutige Problemstellung hinsichtlich des Paradoxons sich bewegt. Was jetzt in der wissenschaftlichen Diskussion sowohl auf philosophischem als auf theologischem Gebiet mit Bezug auf dieses Thema in den Vordergrund tritt, gibt wohl Variationen dieses |170| dreifachen Grundtypus und konstruiert wohl Begriffe, in denen sich diese Grundtypen kreuzen, aber doch wird der Kern der Debatten deutlich immer wieder beherrscht durch die Termini dieser Probleme: eine horizontale und eine vertikale Linie auf der einen Seite, und die Möglichkeit eines sich homogen behauptenden Denkens oder die eines „gebrochenen” oder auch die eines sich selbst aus dem Widerspruch konstituierenden Denkens andererseits.

Man kann Variationen von dieser Problemstellung geben, z. B. in Karl Heims Dimensionen, aber wie wir noch sehen werden, ist dies im Grund eine Variation über das Thema der horizontalen und der vertikalen Linie, die sich begegnen, das Thema des Existentiellen, dem das „Ganz-Andere” (Numinose) begegnet. Eine wie starke Neigung die wissenschaftlichen Diskussionen in der letzten Zeit zeigen, um neue oder alte Problemstellungen zu zwingen in das Schema der „horizontalen” und „vertikalen” Linie, des im Widerspruch gegebenen „Durchbruchs” oder „Aufbaus” des Denkens, wird wohl deutlich aus dem Versuch, den Gottlob Spörri gewagt hat, um den durch J.J. Gourd in die Religionsphilosophie eingeführten Begriff des „l’incoordinable” mit dem „bestimmten Etwas” zu verbinden, das nach Kierkegaard, wie Spörri meint, „aller Logik und Abstraktion widersteht und deshalb jedes System notwendig transzendiert, und das wir (Spörri) mit Gourds Incoordinablem zu identifizieren vermochten.” 1) Wir erwähnen diesen Versuch nicht, weil wir ihn für besonders gelungen halten; denn schon die blosse Tatsache, dass neben Kierkegaard und Karl Heim 2) auch Heinrich Rickert 3) von Spörri als Kronzeuge für „l’incoordinable” aufgerufen wird, mahnt zur Vorsicht gegenüber der Linie Kierkegaard-Gourd, |171| die er zieht, und erweckt Zweifel an der Rechtmässigkeit der Verbindung von „l’incoordinable” mit dem Paradox. 4) Nein, wir weisen auf diese Einzelheit aus einem anderen Grund hin: sie zeigt, wie stark jetzt die Neigung ist, den Gedanken der Paradoxalität, wie er sich innerhalb des Rahmens der nach-kierkegaardschen Problemstellung variieren lässt, in der wissenschaftlichen Diskussion auftreten zu lassen. Bei Spörri, dessen Buch u.a. unter den Auspizien Karl Barths und Karl Heims erschienen ist, ist diese Neigung so stark, dass er sich sogar zur Uebereilung verleiten lässt. Wenn Gourd z.B. spricht über „la folie de la croix” und Gott vorstellt als den, der uns „la plus haute représentation objective du hors la loi” gibt, und damit den Gedanken verbindet, dass „la dialectique réligieuse en relevant l’incoordinable se met par le même fait hors la loi” 5) dann zieht Spörri eine Parallele zu „dem Wort des Paulus” von der „Torheit des Kreuzes”, die — sagt Spörri weiter — „aller menschlichen Weisheit d.h. Erkenntnisfähigkeit (!) zuwider, d.h. der rationalen Moralität incoordinabel ist”. 6) Aber hier wird doch auf allzu unbesonnene Weise die F@n\" von 1. Kor. 1 als Erkenntnisfähigkeit aufgefasst, wiewohl schon aus der Tatsache, dass Paulus Jes. 29, 14 zitiert (•B@8ä J¬< F@n\"< Jä< F@nä<), und demgemäss behauptet, dass Gott diese ¦:fD"<g (Vs. 19, 20), deutlich erhellt, dass die „menschliche” (besser wäre: „fleischliche”) Weisheit hier nach ihrem Inhalt gemeint ist.

Paradoxe Konstruktionen haben also wohl das Interesse, auch von religiösem Gesichtspunkt aus. Vor ungefähr 700 Jahren schrieb Wilhelm von Auvergne, dass man keinen Gläubigen antreffen würde, der nicht eher „einräumt, Bejahung und Verneinung könnten vom nämlichen Gegenstand ausgesagt werden, als ein Glaubensartikel sei |172| unwahr.” 7) Später hörten wir auch Hoornbeek im gleichen Sinn reden (contra Weigel). Aber für viele ist die hier als eine Ungereimtheit abgewiesene hypothetische Behauptung selber ein Glaubensartikel.

Wir werden deshalb kurz einige Entwicklungslinien sehen lassen, die das starke Wieder-in-den-Vordergrund-Treten des Paradoxons auf theologischem und philosophischem Gebiet als Erscheinung der Gegenwart erklären können. Nicht immer wird ein direkter Zusammenhang zwischen den Richtungen und Personen, die später genannt werden, aufzuweisen sein, aber in ihrer Begegnung auf dem Areopag der heutigen Geistesbewegung berühren sie sich in der Tat oder werden sie sich berühren.

Nebenbei sei noch bemerkt, dass die Tatsache, dass wir das Auftreten eines Grundtypus III bei Vaihinger-Dieck erwähnten, keineswegs die Behauptung in sich schloss, dass die wissenschaftliche Diskussion sich so scharf mit der hier gefundenen Problemstellung beschäftigt hat. Es ist uns bei unsrer Uebersicht der heutigen mathematischen Probleme wohl etwas anderes deutlich geworden.

Aber, abgesehen von dem, was wir schon dort über eine analoge Problemstellung Haitjemas bemerkten, dürfen wir doch nicht vergessen, dass mit dem Aufwerfen der Frage, ob das Denken sich in und durch den Widerspruch „saniert” und emporsteigt zur Feststellung dessen, was richtig ist, doch ein wesentliches Element der Problemstellung berührt ist. Und das ist für uns von Bedeutung, weil es in der neueren Philosophie Analogien hat, insofern auch darin dialektische Konstruktionen auftreten. Und dann nicht unbeabsichtigt, wie bei Dieck, der das Wort „Paradox” nur gebrauchte, wo er es schon anwesend fand, sondern absichtlich, wie wir sehen werden.

Siegfried Marck sieht sogar hier und da „Dialektik in ihrer orthodoxen Form” auftreten. 8)




1. Gottlob Spörri, Das Incoordinable, Die Bedeutung J.J. Gourds für Geschichtsphilosophie und Theologie, München, 1929, S. 128. Ueber d. Untersch. zw. G. u. K., S. 128/9.

2. a.a.O., S. 129/130.

3. a.a.O., S. 44, 49; nach S. gibt Rickert (das Einmalige) „eine neue Bestimmung des Incoordinablen”: es ist „das Historische in seiner denkbar weitesten Bedeutung”.

4. a.a.O., 130, vgl. K. Schilder, Over het „Skandalon” II, Geref. Theol Tijdschr., Aalten, XXXII, 3 (Juli 1931), 129/130.

5. J.J. Gourd, Philosophie de la Religion. Paris, 1911, p. 273. 262/3 (cf. 271, 269).

6. Spörri. a.a.O., S. 90.

7. W. v. Auvergne, De Fide, c. 1. p. 6 b E sqq.; i b C, angef. in J.N. Espenberger, Grund u. Gewissheit d. übern. Gl. i. d. Hoch- u. Spätscholastik, Paderborn, 1915, S. 148.

8. S. Marck, Die Dialektik i.d. Phil. d. Ggw., I. Halbb., 1929, S. 56.







deze pagina hoort in frames, klik hier

© Appendix Vaginix Productions 2000